
Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres und dann noch einmal in diesem Sommer ereigneten sich – für italienische Verhältnisse – Sensationen: Beide Male wurden Frauen zu Chefdesignerinnen von Luxusmarken ernannt. Die Namen: Louise Trotter und Meryll Rogge. Die Marken: Bottega Veneta und Marni. Warum das erwähnenswert ist, kann man sich fragen, im Land von Miuccia Prada und Donatella Versace? Und überhaupt, ist Mode nicht – wie es häufig abschätzig heißt – sowieso Frauenkram?
Frauen kaufen mehr Mode, das ist richtig. Der weltweite Umsatz beläuft sich auf ungefähr eine Billion Dollar. Bei Männern sind es etwa 600 Milliarden Dollar. Auch im Luxusbereich überwiegt die Damenmode. So etwas entwerfen auch ein paar Frauen, eben zum Beispiel Miuccia Prada, die ihr Unternehmen im Duo mit Raf Simons so sicher durch die Luxuskrise steuert wie niemand sonst. Da war zuletzt sogar noch Geld da, um Versace zu kaufen. Aber schon bei Donatella Versace geht es los. Sie trat im März nach 27 Jahren als Chefdesignerin zurück. Ein Mann übernahm, Dario Vitale.
Es war nur einer von vielen Posten, die zuletzt in der italienischen Luxusmode zu vergeben waren. Gleich zweimal innerhalb von drei Jahren ergab sich eine Vakanz bei Gucci. Und noch eine bei Jil Sander, bei Valentino, Fendi und eben bei Bottega Veneta und Marni. Und nur zweimal rutschten Frauen an die Spitze. Die zuvor letzte Frau, auf die sich die Luxusmanager hatten einlassen können, war Lucie Meier, im Gespann mit ihrem Ehemann Luke, bei Jil Sander. Das ist acht Jahre her. Auch in Paris gingen die vielen freien Posten zuletzt meistens an Männer. Auf die erste Frau bei Dior, Maria Grazia Chiuri, folgt jetzt der zehnte Mann, Jonathan Anderson. Bei Chanel folgt auf Virginie Viard Matthieu Blazy. Bei Balenciaga übernimmt Pierpaolo Piccioli. Immerhin Givenchy ernannte Sarah Burton, eine weitere unter den wenigen Frauen.
Frauen als Modepioniere
Dabei war lange nichts naheliegender, als dass Frauen, die im häuslichen Umfeld nähten, auch professionell die Herstellung von Kleidern übernahmen. Früh bewiesen einige von ihnen Gespür für Markenbildung. Zu den Frauen der ersten Stunde der Luxusmode gehörte Jeanne Paquin. 1891 eröffnete sie mit ihrem Mann einen Couture-Salon im Zentrum von Paris. Er kümmerte sich ums Geschäft, sie entwarf. Während männliche Kollegen die Zusammenarbeit mit anderen kulturellen Institutionen ablehnten, war Jeanne Paquin nicht nur die erste wichtige weibliche Couturière, sondern auch die erste, die Models in ihren Kleidern öffentlich auftreten ließ, auf Opernbällen und Pferderennen und im Theater. Nach dem Tod ihres Manns baute sie das Haus Paquin weiter aus. In besten Zeiten hatte sie so gut zu tun, dass sie 2000 Mitarbeiter beschäftigte, während die Konkurrenz nicht einmal ein Viertel davon vorweisen konnte. Auch Jeanne Lanvin war in dieser Zeit tätig, kurz darauf begannen Madeleine Vionnet und Coco Chanel, dann Elsa Schiaparelli. Sie alle schufen Weltmarken.

Auch später, als sich in den Siebzigerjahren an anderen Orten Modeszenen entwickelten, war es zumindest rückblickend weniger eine Frage von Geschlecht als von Gespür. In Italien trieben Valentino Garavani, Giorgio Armani, Gianfranco Ferré und Gianni Versace den Aufschwung voran, aber doch auch maßgeblich die Fendi-Schwestern, die Karl Lagerfeld 1965 geholt hatten, sowie Alberta Ferretti. Später dann Dolce & Gabbana – und Miuccia Prada. Nach Gianni Versaces Tod übernahm die acht Jahre jüngere Schwester Donatella Versace die Geschäfte. In New York gibt es neben Ralph Lauren und Tommy Hilfiger Carolina Herrera, Donna Karan, Diane von Fürstenberg.
Es zeigt: Auch Frauen können an der Spitze von Weltunternehmen stehen, die ein halbes Jahrhundert später immer noch da sind. Dass sie noch heute deren Sockel bilden, würde sicher niemand in Zweifel ziehen wollen: Meistens ist von der Näherin in Fernost die Rede, seltener vom Näher. Etwa 20 Prozent der Arbeiter in Bekleidungsfabriken weltweit sind männlich. Im Laden steht öfter die Verkäuferin als der Verkäufer. Aber auch im Hörsaal sitzt meistens die Studentin. Das Geschlechterverhältnis im Studiengang Modedesign ist vergleichbar mit dem in den Fabriken, ungefähr 80:20.
Raus aus den Schatten der Modewelt
Es wäre also so, als wenn Tech-Unternehmen fast ausschließlich von Frauen geleitet würden, während der Männeranteil im Studiengang Informatik bei 85 Prozent liegt. SAP, Telekom, Siemens, Infineon, jeweils mit einer weiblichen Spitze. Klingt utopisch? Ein Frauenanteil von zwölf Prozent bei den Kreativdirektoren, wie es der Branchendienst „1Granary“ jüngst berechnete, ist in dem angeblich so weiblich dominierten Feld Realität.
Jean Vigneron weiß, was einen guten Chefdesigner ausmacht. Im Pariser Büro der Personalberatung Egon Zehnder ist er für die Suche nach Kandidaten für Top-Jobs in den Ateliers zuständig. „Ein geeigneter Kreativdirektor muss drei Kriterien erfüllen“, sagt Vigneron. Erstens: „Es braucht kreative Muskelkraft.“ Zweitens: „Führungsstärke, oder anders gesagt: Kann er innerhalb einer Organisation leuchten?“ Und drittens: „Kann er auch nach außen glänzen? Handelt es sich um eine Person von öffentlichem Interesse?“
Punkt drei ist bemerkenswert. Gelten in der Literatur oder in der Musik nicht Frauen, vor allem jüngere, seit einigen Jahren gemeinhin als vermarktbarer? „Das rührt daher, dass sich die Gesellschaft mehr Vielfalt wünscht“, sagt auch Vigneron. „Die Welt besteht nicht nur aus weißen heterosexuellen Männern.“ Nur sei es so in der Mode eben nie gewesen, sagt Vigneron und verweist auf den überdurchschnittlich hohen Anteil an LGBTQI+-Talenten. Frauen sind in der Mode also aktuell nicht von vornherein ein wenig im Vorteil, wie es vielleicht in einigen anderen Branchen der Fall ist. Weiblichkeit ist stattdessen nur eine Option für mehr Vielfalt.
„Sie müssen wohl noch offensiver für sich werben“
Vigneron hat noch weitere Gründe für das unausgewogene Geschlechterverhältnis: „Ein Designer glänzt anders als zum Beispiel ein Schriftsteller.“ In der Mode müsse es etwas mehr krachen. Jean Vigneron nennt Karl Lagerfeld und Hedi Slimane als Beispiele. „Viele Marken wünschen sich diese Art von selbstbewusstem Auftritt, und es herrscht die unfaire Vorstellung, dass Frauen in der Regel zurückhaltender sind.“
Während das Geschlechterverhältnis unter den Modedesign-Absolventen also bei 80:20 liegt, sei es in den Ateliers schon etwa 50:50. Frauen fangen als Assistentinnen an, aber je höher die Ebene, umso weniger Frauen fänden sich dort, sagt Vigneron. Wenn der Pool an männlichen Kreativdirektoren dann besonders groß ist, und Marken in schwierigen Marktsituationen, wie aktuell, auf Sicherheit setzen und lieber jemanden anstellen, der diese Arbeit schon einmal gemacht hat, dann sei das mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mann. Und selbst eine Ebene darunter gebe es mehr Männer. Dabei seien Interessentinnen schon da. „Es ist nicht so, als stünden Frauen für solche Positionen nicht zur Verfügung“, sagt Vigneron. „Aber die Mode hat ihre eigenen Rhythmen, mit zum Teil sehr arbeitsreichen Zeiten. Das kann auch einmal bis zwei Uhr morgens am Wochenende gehen. Das wird Männern eher zugetraut, selbst wenn es nicht so ist.“
Ausgerechnet in der Mode müssen Frauen also wohl noch offensiver für sich werben. Am französischen Muttertag, dem 25. Mai, postete Chemena Kamali, eine der wenigen Kreativdirektorinnen, ein Selfie aus dem Pariser Atelier von Chloé, der Marke, für die sie verantwortlich ist. Im Hintergrund kein Mann, neun Frauen. Ihr Kommentar dazu: „All working moms on Mother’s Day. Many missing on this picture!“