Pierpaolo Piccioli macht Balenciaga leicht

Die Einladung ist ein kleiner Kassettenspieler. Was wohl auf der beigelegten Kassette zu hören ist? Die Erklärung zur Balenciaga-Kollektion für Frühjahr und Sommer 2026? Die Wegbeschreibung zur Modenschau an der Rue de Sèvres im siebten Arrondissement, in der Zentrale des Kering-Konzerns, zu dem die Marke Balenciaga gehört? Oder vielleicht kunsthistorische ­Erläu­terun­gen zu dem Gebäude im Stil von Ludwig XIII., das bis zum Jahr 2000 als Krankenhaus diente?

Nichts von alledem. Wenn man die Kassette einlegt und auf „Play“ drückt, hört man nur einen Herzschlag, also Systole und Diastole, aber nur ungefähr 16 Schläge pro Minute. Eigentlich wäre man dann schon tot, hier geht’s aber wohl um eine andere Aussage: Balenciaga hat Herz. Und das schlägt nicht mehr so aufgeregt wie früher.

„Der Herzschlag ist unser gemein­samer Rhythmus – der Puls, der uns daran erinnert, dass wir Menschen sind“, heißt es dazu lyrisch in den Erläuterungen der Schau, die der neue Chefdesigner Pierpaolo Piccioli persönlich ans Publikum richtet. „Wir existieren im Fühlen, im Erkennen, in der Erinnerung daran, wer wir waren, und in der Vorstellung, wer wir sein werden“, schreibt er noch poetischer. Er habe „die end­losen Tage“, also die Arbeit an seiner neuen Aufgabe, „mit dem Herzen angenommen“.

Bei Piccioli geht es herzlich zu

Bevor das erste Model über den Laufsteg geht, ist also schon klar: Im Vergleich zu seinem Vorgänger Demna, der mit teils martialischen Entwürfen das Publikum so sehr schockierte wie begeisterte, geht es bei Piccioli zarter und vorsichtiger zu, herzlich eben.

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Das „celebrity marketing“ wird trotzdem gnadenlos durchgezogen. Diese Modewoche ist ohnehin reich an Prominenten. Was am Samstagabend in der Kering-Zentrale aufläuft, schlägt aber noch einmal alles. Georgina Rodriguez ist da, die Frau von Cristiano ­Ronaldo, auch Lauren Sánchez Bezos, die Frau von Jeff Bezos, und viele Fans der Marke, die nicht einfach nur „die Frau von“ sind – zum Beispiel die Schauspielerinnen Anne Hathaway, Isabelle Huppert und Kristin Scott Thomas.

Die Schulter des Leder­blousons fällt so herab, dass man sie nur als Negation der eckig-steifen Demna-Schultern verstehen kann.
Die Schulter des Leder­blousons fällt so herab, dass man sie nur als Negation der eckig-steifen Demna-Schultern verstehen kann.Balenciaga

Der Überraschungsgast ist aber Meghan, die Frau von Prinz Harry – es ist der erste und vermutlich auch einzige Auftritt der Herzogin von Sussex in der Prêt-à-Porter-Woche. Sie ist überhaupt zum ersten Mal seit zwei Jahren in Europa, übernachtet in Christian Diors Lieblingshotel Plaza Athénée und kommt im weißen Hosenanzug mit weißem Cape, so minimalistisch, wie Piccioli es mag.

Keine bessere Werbefigur als Meghan

Schon bei Valentino, wo er von 2008 bis 2024 Chefdesigner war, zunächst gemeinsam mit Maria Grazia Chiuri, dann alleine, kleidete er Meghan ein – zum Beispiel trug sie ein Kleid in Valentino-Rot, als sie 2019 hochschwanger mit ihrem Mann Marokko besuchte, und einen weißen Valentino-Hosenanzug bei den Invictus Games 2022. Für seinen Beginn bei Balenciaga könnte sich ­Piccioli keine bessere Werbefigur wünschen im Ringen um weltweite Aufmerksamkeit, selbst wenn ihre Sympathiewerte nicht überall hoch sind.

Meghan verlässt am Samstag das Restaurant Sugaar in Paris.
Meghan verlässt am Samstag das Restaurant Sugaar in Paris.Picture Alliance

Ach ja, und dann gibt es ja auch noch die Schau. Sie beginnt mit Herzschlägen und dem sphärischen Lied „In This ­Heart“ von Sinéad O’Connor. Schon Look 2 fällt auf, weil die Schulter des Leder­blousons so herabfällt, dass man sie nur als Negation der eckig-steifen Demna-Schultern verstehen kann. So stellt Piccioli gewissermaßen das typische Demna-Dreieck aus breiten Schultern und schmalen Hüften auf den Kopf – und betont die Weiblichkeit.

Auf schwarze Zigarettenhosen wie zu Ghesquières Zeiten folgen Ballonröcke.
Auf schwarze Zigarettenhosen wie zu Ghesquières Zeiten folgen Ballonröcke.Balenciaga

Witzigerweise hat Picciolis Interpretation der ikonischen City Bag eine ähnliche Form: unten breit, oben schmal zulaufend. Sein Vorvorgänger Nicolas Ghesquière machte die City Bag zu Beginn des Jahrtausends via Kate Moss bekannt. Piccioli bietet nun eine Midi-Version in Braun, Schwarz, Beige und sogar Fuchsia, die Demnas Dreieck ebenfalls umdreht.

Ballonröcke und überweite weiße Hemden

Diese Kollektion macht schon deshalb Freude, weil sie so phantasievoll wie präzise gearbeitet ist. Auf schwarze Zigarettenhosen wie zu Ghesquières Zeiten folgen Ballonröcke und überweite weiße Hemden mit Schleppe. Kaum hat man genug Bauchfreiheit gesehen, kommt ein mit Blüten besetztes goldenes Bustierkleid daher. Cabanjacken ­sehen robust aus, Abendkleider filigran – dafür hat Piccioli auf den Spuren von Cristóbal Balenciaga eigens einen ­Gazar-Doubleface-Stoff entwickeln lassen, der absichtsvoll unperfekt wirkt. Schwarzes Leder sieht sich starkem Lila, Rot und Gelb gegenüber. Als i-Tüpfelchen setzt der Designer den Models nicht so komplizierte Hüte auf wie Jonathan Anderson bei Dior – sondern einfach nur Damenhüte in Form eines Reithelms mit langem Schirm.

Die Luft zwischen Kleid und Körper wird gewisser­maßen zum Designelement.
Die Luft zwischen Kleid und Körper wird gewisser­maßen zum Designelement.Balenciaga

Das alles sieht leicht, luftig, locker aus. Der Applaus ist riesig. Backstage erläutert Piccioli, dass er nicht das Prêt-à-Porter zur Haute Couture erheben wollte, sondern andersherum gedacht hat: „Ich wollte normalen Kleidungs­stücken wie einem T-Shirt seine Würde zurückgeben.“ Ein weiteres Motto: „Mehr Formen, weniger Gewicht.“ Das schafft er schon dadurch, dass die Luft zwischen Kleid und Körper gewisser­maßen zum Designelement wird.

Der Achtundfünfzigjährige sagt das alles mit einem so weichen italienischen Akzent, dass kaum die Schärfe zu bemerken ist. Denn mit seinen Worten und Werken setzt er sich doch von Demna ab, der den Körper gern großflächig verhüllte. Wie ein kleiner Gruß an das vergangene Jahrzehnt wirken die wichtigtuerischen Sonnenbrillen, die nicht ins lyrische Gesamtbild passen wollen.

Ganz disruptiv ist die Kollektion aber wiederum auch nicht gemeint. So wie Jonathan Anderson bei Dior erst einmal eine filmische Hommage an all seine Vorgänger abspielte, so sagt Piccioli, man müsse sich bewusst sein, „dass man in die Fußstapfen derer tritt, die vor einem da waren“. Insofern bezieht sich der Italiener auf den Georgier Demna, den Franzosen Nicolas Ghesquière und den Spanier Cristóbal Balenciaga, der das Label 1937 gründete, in den Fünfzigern und Sechzigern in der Haute Couture brillierte und 1972 starb. Den so strengen wie formbewussten Couturier hat vielleicht noch nie jemand so gut verstanden wie Pierpaolo Piccioli.