80 Jahre SZ: Über das Wesen des Kulturkritikers – Kultur

Franz Münchinger alias Monaco Franze muss in die Oper. „Walküre“. Und dann soll er in der bekannten, okay: uralten TV-Serie von Helmut Dietl auch noch was Schlaues sagen. Zur Kultur-Schickeria. Über die Oper. Wagalaweia. Die Panik, sich als Banause zu outen, perlt von Franz Münchingers Stirn.

Aber er hat Glück und trifft in der Pause den „deutschen Musikkritiker überhaupt“. Es ist der fiktive Hans Boettner-Salm, in dem man unschwer den realen SZ-Kritiker Joachim Kaiser erkennen kann. „Das ist nicht ein Kritiker“, lässt Dietl die kulturfeste Frau Münchinger, die eigentlich Frau von Soettingen heißt, zum kulturfernen Herrn Münchinger sagen, „es ist der Kritiker.“ Monaco Franze: „Täuschen tut sich der nie?“ Antwort: „Nie!“

Das endet nicht gut für den „Walküre“-Dirigenten (uninspiriert bis lahm), für Brünnhilde (indisponiert bis schlecht), für Wotan (farblos bis nicht vorhanden) und die Inszenierung als Ganzes (altmodisch bis provinziell). Verblüffend gut geht die Sache dagegen für Franz Münchinger aus: vom Banausen zum Kenner. In Minuten. Liebevoller und auch boshafter als bei Dietl lässt sich die Kritik in ihrem magischen Wesen weder feiern – noch auf den Arm nehmen.

Der junge Goethe? Ein „Ignorant“

Eine Pointe dieser Szene ist übrigens diese: Als der Autor dieser Zeilen einst als junger Kritiker ins Feuilleton der SZ eintrat, mindestens wie in einen Orden, um dem Wahren und Schönen ewige Profess zu geloben, erhielt man ein Geschenk. Vom fehlerlosen Feuilleton. Ein kleines Buch ist es, erschienen 1947, das man seither direkt neben der Bibel im Regal stehen hat. Titel: „Der kluge Zeitgenosse“. Untertitel: „Fehlurteile der Kritik“. Täuschen tut sich der nie? Fast nie.

Der junge Goethe? Ein „Ignorant“. Shakespeare? Ein „roher Possenreißer“. Bach? Dessen Musik sei „schwülstig und verworren“. Lessing? Ein „verschmitzter Plagiarius“. Über Schillers Stück „Kabale und Liebe“ heißt es in der Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitung 1784: „Mit welcher Stirn kann ein Mensch doch solchen Unsinn schreiben?“ Bis heute empfiehlt sich dieses Zitat für wütende Mails mit der Betreffzeile „Ihre Kritik“. In Cc dann erstaunlich oft: die Chefredaktion. Regelmäßig führt dies zu perlender Panik auf Kritikerstirnen.

Kritiker sind, bis dies alles bald die KI erledigt, auch nur liebende Menschen

Man kennt einen geschätzten Kollegen in der SZ, der einmal schrieb: „Hip-Hop hat keine Zukunft.“ Das war 1989 – und in einem größeren Teil der Zukunft war bald nur noch Hip-Hop zu hören. Nun. Ein anderer geschätzter Kritiker fand, dass ein englisches Buch über einen Zauberlehrling mit dem seltsamen Namen Harry Potter keine Zeile wert sei. Nun. Und der geschätzte Kollege aus der Filmkritik fand die Synopse „Weißer, querschnittsgelähmter und stinkreicher Franzose hat viel Spaß mit seinem schwarzen, arbeitslosen, großmäuligen Krankenpfleger“ so fad, dass er den Film kaum erwähnen wollte. Nun. Titel des Films: „Ziemlich beste Freunde“.

Kritiken sind ziemlich beste Freunde, die ziemlich fehlerlos sind. Der/die täuscht sich nie? Nie! Wenn aber doch, dann bitten wir hiermit um Verzeihung. Kritiker sind, bis dies alles bald die KI erledigt, auch nur liebende Menschen. Und übrigens wissen sie, dass sie am Ende gar nichts sind, nicht mal im Irrtum, ohne ihre Leserinnen und Leser. Danke dafür.