
Also, mit Lotti war das so. 2013 soll sie im Oggenrieder Weiher bei Irsee einen Jungen gebissen haben und danach abgetaucht sein. Weil es sich bei Lotti trotz ihres liebreizenden Namens um eine Schnappschildkröte handelt, griffen Polizei und Feuerwehr ein. Eine solche Schildkröte, das hatte Alfred Brehm geschrieben, „ist ein Ungeheuer in Gestalt und Wesen, ein Krokodil mit Schildkrötenpanzer. Sie beißen nach allem, was ihnen in den Weg kommt, und lassen das einmal Erfasste so leicht nicht wieder los.“
Das Wasser des Sees wurde abgelassen, Suchhunde schnüffelten im Morast herum, Sonden kamen zum Einsatz. Nichts. Nur weil die Häscher außerstande waren, Lottis habhaft zu werden, verstiegen sie sich nachher zu der Behauptung: Es habe niemals eine Lotti im Oggenrieder Weiher gegeben! Lächerlich.
Eine aufgeklärte, der Wahrheit und dem gesunden Menschenverstand verpflichtete Tageszeitung kann derlei nicht einfach stehen lassen. Im SZ-Jahresrückblick übernahmen der Autor dieses Beitrags und seine Mitstreiter Josef Kelnberger, Cord Aschenbrenner, Michaela Schwinn und Julia Hecht eine publizistische Schirmherrschaft über Lotti und schrieben in der Rubrik „Tiere des Jahres“ ein Jahrzehnt lang alle zwölf Monate wieder, welches Unrecht Lotti widerfuhr, indem eine eigensüchtige Umwelt ihre Existenz einfach leugnete. Die Schnappschildkröte wurde auf diese Weise ihrerseits zum Maskottchen des Jahresheftes, das es heute leider nicht mehr gibt. Das „SZ-Streiflicht“ hat die Tradition glücklicherweise übernommen und lässt Lotti hin und wieder einmal aus ihren trüben Wassern auftauchen.
Unsere Beweisführung muss doch jedem und jeder einleuchten: Der Umstand, dass sich niemals jemand fand, der Lotti wirklich gesehen hat, belegt doch nur, dass es sich um eine besonders raffinierte Schnappschildkröte handeln muss. Weil die, wie wir Fachleute sagen, Macrochelys temminckii von Mutter Natur leider wirklich nicht mit Anmut gesegnet ist, verbirgt sie sich schamhaft dem menschlichen Blick und hat darin eine bemerkenswerte Geschicklichkeit entwickelt. Kurz: Lotti wurde nie gesehen, weil sie nie gesehen werden wollte.

Der Einsatz für Lotti ist nur ein Symbol dafür, welchen Stellenwert das Tier an sich in der Süddeutschen Zeitung von jeher genießt. In weiten Teilen der Belegschaft herrschen freundliche Gefühle für unsere Mitgeschöpfe, auch wenn der Nato-Korrespondent in Brüssel einmal aus einer grimmigen Stimmung heraus den Abschuss von allzu vorwitzigen Wölfen forderte. Es mag dies mit seinem Themengebiet der Wehrhaftigkeit zu tun haben, er ist dennoch ein sehr feiner Kerl.
Die Mehrzahl der SZ-Redakteurinnen und -Redakteure scheint, zumindest gefühlt, selbst ein Tier zu haben oder gleich mehrere. Lange Zeit, als es noch das alte Pressehaus in der Sendlinger Straße gab, hingen dort im innenpolitischen Sekretariat Katzenkalender mit Sinnsprüchen neben dem verstimmten uralten Klavier (dem allein der in diesem Jahr leider verstorbene Hermann Unterstöger bei Heribert Prantls Weihnachtssingen klangvolle Töne zu entlocken vermochte). Katzenfreunde glauben an eine besondere, geheimnisvolle Weisheit ihrer Tiere, worauf wir lieber nicht näher eingehen wollen; hier nur der Hinweis, dass das „Streiflicht“ kürzlich erst den Teilnehmer eines Betroffenenforums zitierte. Dieser gab an, er kenne Katzen, „dümmer als ein Kasten voller Hämmer“.
Viele andere Kolleginnen und Kollegen besitzen Hunde. Hunde kommen in der Regel ins Haus, wenn die Kinder groß und durchtrieben genug sind, heilige Schwüre abzugeben, sie würden sich um das Tier kümmern, solange es lebe. Drei, vier Jahre später erfordern bedauerlicherweise ganz andere Phänomene die volle Aufmerksamkeit der nunmehr Halbwüchsigen, „Minecraft“ etwa oder im schlechteren Fall „Call of Duty“, die C-Jugend im Fußball oder die bezaubernde Nelly aus der 10 B. Die Eltern werden fortan bei Eisregen oder Sommerhitze die täglichen Runden mit dem Hund gehen bis zu dessen spätem Ableben.
Eines Tages rief der Chefredakteur aus, ob man hier bei der Zeitschrift „Haus und Hund“ sei oder was?
Unter ganz anderen Umständen fand Strudel Eingang in die Redaktion. Übertragen auf ein Menschenalter wurde der Dackel des feinen Kollegen Jan Bielicki etwa 130 Jahre alt und verteidigte das Büro seines Herrn durch entschlossenes Gebell, das eines Tages den Zorn eines eher caninophoben Chefredakteurs hervorrief. Jan gelang es umso weniger, den Boss zu besänftigen, als er in der legendären Lokalkolumne „Strudels Welt“ regelmäßig über Abenteuer und Befindlichkeit seines Dackels Auskunft gab. Eines Tages rief der Chefredakteur aus, ob man hier bei der Zeitschrift Haus und Hund sei oder was, und ob seine Redakteure nicht Zielführenderes …? Strudel setzte seine Visiten dessen ungeachtet und unbeirrt fort.
Eine sehr geschätzte Kollegin hütet nun selbst einen solchen Bürohund; zudem besaß oder besitzt sie, wir haben leicht die Übersicht verloren, über die Jahre eine beachtliche Menagerie. Dazu gehört ein Falke, von dem sie behauptet, er sei ein Habicht. Oder umgekehrt? Oder der Habicht behauptet, er sei ein Falke? Wir wissen es nicht mehr. Unvergessen jedoch, dass die Kollegin, als die Videokonferenz gerade Einzug in die Beratungen der SZ-Redaktion gehalten hatte, unverdrossen in ihrem Vortrag über das Wochenprogramm fortfuhr, als ihr Graupapagei ihren Kopf als Landeplatz auswählte und von dort zufrieden Zustimmung krächzte.

Bei so viel Tierliebe kann es nicht ausbleiben, dass sie auch in den Spalten der Zeitung Niederschlag fand und findet, ob gedruckt oder digital. Es spricht für den progressiven Charakter der SZ, dass besonders das ausbrechende, neue Ufer seines Daseins suchende Tier große Anteilnahme fand. Wer hier abschätzig von „Sommerlochtieren“ spricht, hat die Tiefe dieses Commitment nicht im Ansatz verstanden.
So beschrieb unser lieber Freund Hermann Unterstöger, der mehr „Streiflichter“ verfasste als jeder oder jede andere in der SZ, in der Kolumne einmal den Weg eines Waschbären über das Meer. Offenbar war dieser seiner nordamerikanischen Heimat überdrüssig geworden, obwohl Donald Trump seinerzeit noch gar nicht Präsident der USA war. Waschbären sind schlau, vielleicht hat dieser das Unheil kommen sehen. Jedenfalls schlich er sich als blinder Passagier an Bord eines Schiffes und reiste so über den Atlantik, wobei sich der Text des besonderen Umstandes annahm, dass sich der Waschbär während der Überfahrt fast ausschließlich von Dosenbier ernährte, das in dem von ihm gewählten Container lagerte. Das „Streiflicht“ stellte die dringende Frage: „Hatte er den Drang, auch das Bier zunächst zu waschen, und wenn, womit und worin?“
Nur Übelmeinende könnten behaupten, Augsteins Wallaby sei vor der Wochenzeitung „Der Freitag“ geflohen
Dank ihrer Sprungkraft gelingt auch Kängurus mitunter die Flucht aus dem alten Leben. Dieser Tage enthüpfte ein Wallaby-Känguru seinem Besitzer aus dem Garten einer Villa in Berlin-Kladow. Es soll sich bei diesem, behauptete Bild, um den Spiegel-Erben Jakob Augstein handeln. Trotz dieser nicht unheiklen Personalie schickte das Nachrichtenmagazin sogleich investigative Reporter los, die in Augsteins Garten zwei weitere, offenbar ziemlich traurige Kängurus ausmachten und bei diesem Anblick ins Tiefenphilosophische verfielen: „Hinter den Gittern hocken nur zwei graue Beuteltiere, ebenso sinnlos und verloren wie manchmal die Gegenwart.“
Berührende Worte. Gerüchte hingegen, das entkommene Känguru habe spontan die Flucht ergriffen, nachdem ihm eine Ausgabe der linken Wochenzeitung Der Freitag, die Jakob Augstein herausgibt, in die Pfoten geraten war, sind bloß Unterstellungen.

Wie vorbildlich ist hingegen der Umgang des „SZ-Streiflichts“ mit entlaufenen Kängurus. Der feinsinnige „Streiflicht“-Chef Hilmar Klute, einst Besitzer eines wirklich bemerkenswerten Hundes namens Winston, rief dazu auf, die lange gemeinsame Geschichte der Kängurus und der Menschen zu würdigen, und schilderte, wie diese Tiere im Mittelalter auf Hüpfburgen lebten und sich später an barocken Höfen in den Hoppegärten der Schlösser ergötzten. Und er kam zu dem Schluss: „Wir Deutschen tun auf jeden Fall gut daran, den Kängurus den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“
In ebendiesem Sinne versuchte die SZ-Redaktion um das Jahr 2001 die Verschickung des Münchner Hippo-Paares Rosa und Gurbe nach Brasilien zu verhindern. Weder der Freistaat Bayern noch die Stadt München mochten die paar Millionen Euro ausgeben, die ein artgerechtes Planschgehege für die Nilpferde des Zoos Hellabrunn gekostet hätte. Shame, shame on you. Nicht einmal der hippophile Autor dieses Beitrags, der seinerzeit das kalte Herz des CSU-Finanzministers Faltlhauser durch einen Seite-4-Kommentar mit Hinweisen auf die kommunale Finanzkrise der Nullerjahre zu erweichen trachtete, hatte seinerzeit Erfolg. So kam es, dass Rosa und Gurbe in großen Containern, auf einer für sie gewiss ganz unverständlichen Reise, in den Zoologischen Garten Itatiba gebracht wurden.
Dort, berichtete die einfühlsame Kollegin Astrid Becker später, vollendete sich „die Liebe, die in Hellabrunn begann“: Das Paar bekam Nachwuchs. Ähnliches Glück im weiteren Leben sei allen entsprungenen Kängurus gewünscht. Sollte sich das Wallaby aus Berlin-Kladow häuslich in Brandenburg niederlassen, Vorsicht: Dort gibt es neuerdings Wölfe, eine von der SZ-Redaktion ebenfalls nachhaltig begrüßte Rückkehr der wilden Räuber. Für Instruktionen, was dann zu tun ist, wende sich das Känguru bitte umgehend an den Nato-Korrespondenten in Brüssel.