Nachruf auf die Schimpansenforscherin Jane Goodall

„Follow your heart“, folge deinem Herzen, schrieb Jane Goodall nach Auftritten vor großem Publikum als Widmung in Bücher von ihr und über sie, immer und immer wieder. Bei jeder anderen wäre es eine Plattitüde gewesen, eine Kalenderweisheit, aber nicht bei dieser Frau, Wissenschaftlerin und Aktivistin, die sich in ihrer ruhigen Entschlossenheit genau davon hat leiten lassen: nicht von verstandesbetontem Kalkül, sondern einer Faszination für ihren Forschungsgegenstand, die wilden Schimpansen, die im Kern eine emotionale war und auf eine kindliche Faszination zurückging. So suchte sich Jane Goodall abseits akademischer Pfade gegen Widerstände der Zeit als junge Frau einen Weg von Großbritannien nach Afrika – und gelangte zu bahnbrechenden Erkenntnissen für die Zoologie.

Geboren 1934 in London als Valerie Jane Morris-Goodall, Tochter eines Rennfahrers und einer Romanautorin, erlebte sie die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und hatte doch eine glückliche Kindheit, in der sie ihrer Neigung, Tiere zu beobachten folgen konnte. Ein Stoffaffe namens Jubilee war dabei ihr ständiger Begleiter. Im Alter von zehn Jahren ergatterte Jane Goodall eine gebrauchte Ausgabe von Edgar Rice Burroughs’ „Tarzan bei den Affen“, kletterte mit dem Buch auf ihren Lieblingsbaum im Garten, las es komplett und war verliebt: in Tarzan und die Wildnis Afrikas – und nicht nur, weil sie Jane hieß.

Mit der Größe kindlicher Vorstellungskraft

Die von Jane Goodall gerne kolportierte Episode ist ein Beispiel für die Größe kindlicher Vorstellungskraft, die im frühen Umfeld der Forscherin, vor allem von der Mutter, nicht kleingeredet wurde. Und so sollte Vanne Morris-Goodall eine wichtige Rolle bei der ersten Expedition ihrer Tochter an den Gombe-Fluss in Tanganyika spielen.

Jane Goodall fand heraus, dass Schimpansen uns näher sind, als gedacht: Aufnahme von Hugo van Lawick aus dem Gombe-Gebiet aus dem Jahr 1962
Jane Goodall fand heraus, dass Schimpansen uns näher sind, als gedacht: Aufnahme von Hugo van Lawick aus dem Gombe-Gebiet aus dem Jahr 1962National Geographic Creative / Hugo van Lawick

Doch zunächst konnten sich die Naturforscherambitionen Jane Goodalls nicht verwirklichen. Sie absolvierte nach dem Schulabschluss eine Ausbildung als Sekretärin. Damit ausgerüstet, reiste sie 1957 nach Kenia und begann dort als Assistentin des Paläoanthropologen Louis Leakey zu arbeiten. Leakeys Interesse galt den hominiden Vorfahren des modernen Menschen. Sich dessen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, in freier Wildbahn zu widmen, ermutigte er drei junge Frauen, die seine Stiftung unterstützte: Jane Goodall für Schimpansen, Diane Fossey für Gorillas, Birutė Galdikas für Orang-Utans. Leakey glaubte, dass die Amateurinnen – akademisch unbeleckt – unbefangener Beobachtungen anstellen könnten als mit Theorien vorbelastete Männer.

Eine bahnbrechende Beobachtung

Im Jahr 1960 traf Jane Goodall, begleitet von ihrer Mutter, im Schimpansenreservat am Gombe-Strom ein. Die Jungforscherin ohne europäische Begleitung allein in den Busch zu schicken, hatten die Behörden im noch britisch kolonial beherrschten späteren Tansania – 1961 wurde das Land unabhängig – für unschicklich befunden. Von Beginn tat Jane Goodall, was in der Wissenschaft verpönt war: Sie ließ Körperkontakt mit Affen der Schimpansengruppe zu, deren Vertrauen sie allmählich gewann, und gab den Tieren Namen. Der berühmteste wurde David Greybeard.

Die ersten Lebensjahre verbrachte ihr 1967 geborener Sohn in der tansanischen Wildnis: Jane Goodall mit „Grub“ van Lawick
Die ersten Lebensjahre verbrachte ihr 1967 geborener Sohn in der tansanischen Wildnis: Jane Goodall mit „Grub“ van LawickJane Goodall Institute/Hugo van Lawick

Ihn beobachtete Jane Goodall schon wenige Monate nach ihrer Ankunft am Gombe dabei, wie er einen Grashalm durch das Abstreifen von Blättern so veränderte, dass er ihm besser zum Angeln von Termiten aus ihrem Bau dienen konnte. Es war ein revolutionärer Augenblick: Bis dahin hatte das Vermögen zur Herstellung von Werkzeugen als exklusive Fähigkeit des Menschen gegolten.

Nicht mit Jubilee, dem Stoffaffen ihrer Kindheit, sondern einem späteren Nachfolger: Jane Goodall 1997 in Frankfurt
Nicht mit Jubilee, dem Stoffaffen ihrer Kindheit, sondern einem späteren Nachfolger: Jane Goodall 1997 in Frankfurtdpa

Dafür, dass ihre Forschungen weit über Fachkreise hinaus bekannt wurden, sorgte die „National Geographic Society“, die 1962 einen Fotografen und Dokumentarfilmer zu Jane Goodall an den Gombe schickte. Hugo van Lawick und Jane Goodall verliebten ich ineinander, heirateten und bekamen einen Sohn, der später zum Schulbesuch nach Großbritannien zur Großmutter geschickt werden sollte, damit seine Mutter weiter forschen konnte. Jane Goodall ließ sich von Affenmüttern bei der frühkindlichen Betreuung ihres Sohnes inspirieren, danach nicht mehr.

Eine No-Nonsense-Britin im Busch

Van Lawicks Aufnahmen wurden ikonisch: Die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und den Khaki-Shorts – „zum Glück hatte ich schöne Beine“, scherzte Jane Goodall im Alter – , die so vertraut im Umgang mit den wilden Schimpansen war, prägten das öffentliche Bild der Forscherin, deren Erscheinung sich nie mehr wesentlich veränderte. Zu sehen war eine sanfte, aber zähe und bestimmte No-Nonsense-Britin mit Entdeckergeist und Naturliebe, deren Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent auch für ein freundliches Ende der Kolonialzeit stand.

Eine von zahlreichen Ehrungen: Im Januar 2025 verlieh der damalige US-Präsident Joe Biden Jane Goodall die „Medal of Freedom“.
Eine von zahlreichen Ehrungen: Im Januar 2025 verlieh der damalige US-Präsident Joe Biden Jane Goodall die „Medal of Freedom“.Reuters

Akademische Anerkennung fand die Quereinsteigerin, als sie auf Grundlage ihrer außerordentlichen verhaltensbiologischen Beobachtung ohne vorheriges Studium an der Universität von Cambridge promoviert wurde. Fünfundzwanzig Jahre verbrachte sie mit den Schimpansen in Afrika, baute eine Forschungsstation auf und nahm Gastprofessuren an. Doch das war noch längst nicht das Ende der Reise.

Eine neue Mission

Dafür, dass aus der Forscherin eine Aktivistin wurde, die fortan unermüdlich rund um den Globus reiste, um Menschen für den Naturschutz zu gewinnen, sorgten wieder Emotionen: ein Gefühl des Angerufenseins, das Jane Goodall Mitte der Siebzigerjahre kurz nach ihrer Scheidung beim Besuch von Notre Dame in Paris überkam. Jemand spielte Bach auf der Orgel, und die Botschaft war klar: Sie musste handeln, um zu bewahren, was sie liebte.

1977 gründete sie das Jane Goodall Institute zur „ Förderung des respektvollen Umgangs mit Menschen, Tieren und der Natur“, das inzwischen international tätig ist, eine Schimpansenstation unterhält, Menschen für den Naturschutz ausbildet, Bäume pflanzt und eine Jugendorganisation hat. Mit ihrem zweiten Ehemann, dem 1980 verstorbenen Parlamentsabgeordneten und Direktor der tansanischen Nationalparks, Derek Bryceson, setzte sich Jane Goodall für den Schutz des Gombe-Gebiets als Nationalpark ein.

Begegnung mit einem Gorilla: Jane Goodall 2011 im Zoo von Melbourne
Begegnung mit einem Gorilla: Jane Goodall 2011 im Zoo von MelbourneEPA

Dass die Bewahrung der Habitate der Primaten nur mit, nicht gegen die Bevölkerung vor Ort gelingen kann, war eine ihrer festen Überzeugungen. Vor unbequemen Positionen schreckte sie nicht zurück – das enorme Anwachsen der menschlichen Weltbevölkerung in ihrer Lebenszeit benannte sie als Gefahr, Donald Trump verglich sie mit einem aggressiven Affen – vermied es aber, sich dogmatisch festzubeißen. Ihre Strategie war nicht die Attacke, sondern das Gewinnen von Herzen und Verstand.

Darin war ihr Talent womöglich noch außerordentlicher als ihre Beobachtungsgabe bei der Feldforschung – und das, obwohl Jane Goodall an Gesichtsblindheit litt. Mit Ehrungen überschüttet, von ranghohen Politikern und Berühmtheiten als Gesprächspartnerin gesucht, schob sich nie ihr Ego in den Vordergrund. Jane Goodall gehörte zu den persönlich bedürfnislosen Menschen, die liegen gebliebene Zuckertütchen etwa neben einem im Hotel servierten Tee einsteckten, um sie auf der nächsten Station ihres Weges verwenden zu können.

Botschaft der Hoffnung: Jane Goodall 2019 bei ihrem Vortrag mit dem Titel „Reasons for Hope“ in München
Botschaft der Hoffnung: Jane Goodall 2019 bei ihrem Vortrag mit dem Titel „Reasons for Hope“ in Münchendpa

Vorträge in großen Hallen begann sie, indem sie hinter der Bühne Schimpansenschreie zur Begrüßung ausstieß, um anschließend ganz gediegen als britische Dame – geadelt war sie längst – an einem Whisky nippend, der die schwache Stimme ölte, über Schimpansen zu sprechen, darüber, wie nah und fern zugleich sie uns sind, was wir von uns selbst verlieren, wenn sie verschwinden. Oder wie Naturschutz im Kleinen konkret aussehen kann, vor der eigenen Haustür.

Eines ihrer letzten Bücher war der Hoffnung gewidmet, die man angesichts der menschengemachten Weltkatastrophen, der fortschreitenden Zerstörung von Lebensräumen und der Klimakrise verlieren kann. Während der Pandemie entstanden, schöpft es Mut aus einem nach Jahrtausenden gekeimtem Dattelkern ebenso wie aus den Reden Winston Churchills. Jane Goodall, ganz Britin ihrer Generation, konnte sich daran aufrichten, dass selbst in scheinbar völliger Ausweglosigkeit der Mensch über sich hinauswachsen kann wie das angegriffenes Großbritannien im Zweiten Weltkrieg unter seinem Premier. Man mochte sich nicht täuschen: Die in ihren späten Jahren fast schon vergeistigt wirkende, wie von innen sanft leuchtende Jane Goodall, die den Weg des Herzens zur Maxime gewählte hatte, verfolgte ihn mit jenem „unbezwingbaren menschlichen Willen“, den sie an Churchill bewunderte. Nun ist sie im Alter von 91 Jahren auf einer Vortragsreise in Kalifornien gestorben.