Schoko-Träume und Stoffe aus der Schweiz

„Das ist unser Roter Platz. Herzlich willkommen in der ersten öffentlichen Lounge der Schweiz“! Stadtführerin Antoinette Corculla deutet lachend auf die rote Umgebung im St. Galler Bleicheli-Quartier, Gehwege und Straßen sind unter rotem Gummigranulat verschwunden. Ergonomisch geformte Mulden aus demselben Material bieten bequeme Sitzgelegenheiten. Auch ein Porsche ist unter dem Rot verschwunden und lädt Kinder zu ungefährlichen Kletterpartien ein. Den Künstlern Pipilotta Rist und Architekt Carlos Martinez sind mit der inspirierenden Stadtlounge, in einer gewöhnlichen Einkaufs- und Bürogegend, eine einzigartige Kunst-Installation gelungen. Von unserem Hotel Einstein, in dem wir die nächsten Tage verbringen werden, sind alle Sehenswürdigkeiten zu Fuß erreichbar. Selbst zum Bahnhof ist es weniger als eine Viertelstunde.

St. Gallen, in der Ostschweiz, ist eine sehr alte, gleichzeitig sehr moderne Stadt und eigenständiger, deutschsprachiger Kanton. Der Legende nach kam 612 der Wandermönch Gallus aus Irland an den Bodensee. Während seines Aufenthalts stürzte er schicksalhaft in einen Dornenbusch, was ihn zum Bleiben bewog. So die Legende. Jedenfalls erwuchs aus der im selben Jahr gegründeten Einsiedelei über mehrere Hundert Jahre ein Kirchenbezirk mit Kloster, Kathedrale, Bibliothek und verschiedenen Amtsgebäuden.

Die schattigen Plätze im Klosterhof sind heute bei sommerlichen Temperaturen begehrt. Seit 1983 ist der gesamte Bezirk inklusive Bibliothek und Archiv Weltkulturerbe der Unesco. Das schon äußerlich eindrucksvolle Gotteshaus mit seinen Doppeltürmen, erbaut 1756 bis 1766, präsentiert sich im schönsten Bodensee-Barock und ist eines der Wahrzeichen St. Gallens. Kunstvolle Holzschnitzereien und schwindelerregende Deckengemälde ergänzen im Inneren das Gesamtkunstwerk. Gerade übt der Organist für den nächsten Gottesdienst. Gewaltige Musik entlockt er den zahlreichen Orgelpfeifen.

„Man erzählt sich, näherte man sich einst St. Gallen, hatte es den Anschein, als läge es unter einer ewigen Schneedecke“, berichtet uns Antoinette auf dem Weg ins Textil-Museum. Die Stadt war und ist immer noch für ihre Textilgeschichte berühmt. Für den Flachsanbau war die Höhenlage ideal. Auf den Wiesen ausgebreitete Leinentücher, zum Bleichen verteilt, vermittelten den Eindruck „ewigen Schnees“. Dann kam 1750 die Stickerei dazu. Anfang des 20. Jahrhunderts stammten mehr als 50 Prozent der weltweiten Stickereiproduktion aus St. Gallen. Im Museum staunen wir nicht nur über Gewebe ägyptischer Grabfunde und historische Stickereien aus dem 14. Jahrhundert. Eine Ausstellung zeigt moderne, fantasievolle Objekte zeitgenössischer Textilkunst. Aus Stoff sind selbst die Eintrittskarten.

Eng verbunden mit der Entwicklung der Textilproduktion ist auch das Vier-Sterne-Hotel Einstein. „Nein, nein, mit dem legendären aus Ulm stammenden Albert Einstein hat unser Hotelname nichts zu tun“, erklärt uns General Manager Michael Vogt schmunzelnd. Von ihm erfahren wir mehr über die Vergangenheit des Hauses. Ursprünglich wurde das Gebäude 1830 als Appretiererei für die Textilindustrie gebaut. Der Fabrikant Isaak Einstein etablierte dort einige Jahre später eine Stickereifabrik. Doch dieser Geschäftszweig war auf Dauer nicht von Bestand. 1978 kaufte Textilunternehmer Max Kriemler die Liegenschaft, renovierte sie und eröffnete 1983 das Hotel.

Kunstwerke, unterschiedlicher Genres ziehen die Aufmerksamkeit des Gastes auf sich bei einem Gang durchs Gebäude. Mit dem Aufzug geht es in den fünften Stock, wo sich das Gourmet-Restaurant des Hotels befindet, mit weitreichendem Blick über St. Gallen. „Mir macht Kochen einfach Spaß. Es gibt kaum Berufe, die so viel Platz für Kreativität lassen“, erklärt uns Küchenchef Sebastian Zier. Dabei bedeutet Koch zu sein in einem Restaurant Knochenarbeit. „Mir fallen immer wieder neue Kombinationen ein, Traditionelles mit neuen Geschmacksrichtungen oder Ungewöhnliches möglich machen. Dabei ist stets der Gedanke Nachhaltigkeit und naturnah im Hinterkopf.“ Sebastian hält auch an Prinzipien fest. Selbstverständlich sind alle stolz auf 18 Punkte Gault Millau und zwei Sternen Michelin, mit denen das Einstein Gourmet Restaurant ausgezeichnet wurde. Zu einem besonderen Menü gehören auserwählte Weine.

„Habt ihr schon Pläne für den morgigen Tag? Wie wäre ein Besuch des Chocolariums in Flawil?“ Das hört sich verlockend an. An der Rezeption des Hotels erhalten wir wertvolle Informationen. Mit der Ostschweizer Gästekarte Oskar, die es schon ab zwei Übernachtungen in Partnerhotels gibt, fahren wir nicht nur kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern haben auch freien Eintritt in Bergbahnen und Museen. Vor dem architektonisch futuristisch gestalteten Gebäude des Chocolariums in Flawil wartet eine Schulklasse auf den Eintritt. Was für eine spannende Idee, Schulausflug in eine Schokoladen-Fabrik! Aufgebaut auf dem Thema Glück erhält der Besucher interessante Einblicke in die Herstellung des „Glücksbringers“. Natürlich darf bei einem Rundgang selbst Hand angelegt werden und an ­Degustationen fehlt es auch nicht.

Auf und am nahe gelegenen Bodensee herrscht Hochbetrieb. Segler, Kanuten, natürlich auch Schwimmer suchen in und auf dem Wasser Abkühlung. Unterwegs auf dem Bodensee mit dem Flaggschiff der Schweizer Bodensee Schifffahrt, der MS St. Gallen, genießen auch wir eine frische Brise. Manche Gäste verlassen das Schiff an der nächsten Anlegestelle, um durch eines der romantischen Schweizer Städtchen zu bummeln. Welch archaisches Erlebnis ist das Ankommen beziehungsweise Ablegen mit dem Schiff, verglichen mit der Landung per Flugzeug.

Abends zieht es uns nochmals zum Roten Platz. In der Dämmerung leuchten zwischen Häusern aufgehängte „Findlinge“ in verschiedenen Farben. Erleuchtete Lichtkörper, schwebenden Findlingen nachempfunden, verleihen dem Viertel gerade am Abend ein besonderes Ambiente, das von der St. Gallener Bevölkerung genossen wird. Manch einer erklettert das rot eingepackte Fahrzeug, um wenigstens einmal auf einem, wenn schon nicht in einem Porsche gesessen zu haben.