Margiela goes Mainstream: Wie wurde der Tabi-Schuh plötzlich so beliebt?

Ausgerechnet der introvertierteste aller Modeschöpfer hat einen der extrovertiertesten Schuhe aller Zeiten entworfen. Die Rede ist vom belgischen Designer Martin Margiela, notorisch öffentlichkeitsscheu, und dem sogenannten Tabi. Dabei handelt es sich um Stiefel mit getrennter Zehenpartie, deren außergewöhnliche Silhouette seit ihrer Einführung eben nicht nur die Zehen, sondern auch die Meinungen spaltet. Zumindest war das noch bis vor Kurzem so, denn: Die ursprünglich polarisierenden Tabi erleben jüngst ein Revival und scheinen im Mainstream angekommen zu sein. Aktuell reißen sich alle um das Schuhmodell. Woher rührt dieser stilistische Sinneswandel?

Die Geburt des Tabi

Seinen ersten Moment im Rampenlicht hatte der Tabi bereits im Oktober 1988 in der Debütkollektion von Martin Margiela. Zum einen ließ der Designer seine Models erst durch rote Farbe laufen, bevor sie den Catwalk betraten, wodurch sie mit jedem Schritt einen farbigen Abdruck hinterließen. Zum anderen war es die Form der Stiefel selbst, die das Publikum irritierte. Ein solches Design mit Zehenschlitz, bei dem der große Zeh von den vier anderen getrennt ist und dadurch entfernt an die Optik von Kamelfüßen erinnert, hatte man bis dahin noch nicht gesehen. Zumindest nicht im Westen, denn der Tabi ist per se keine Erfindung Margielas: Seine Ursprünge hat er im Japan des 15. Jahrhunderts.

Cardi B kommt im Juli 2025 in Tabi-Schuhen zur Margiela-Schau in Paris.
Cardi B kommt im Juli 2025 in Tabi-Schuhen zur Margiela-Schau in Paris.picture alliance

Die Silhouette basiert auf den baumwollenen Tabi-Socken, die traditionell zu Zehensteg-Sandalen mit Holzsohle getragen werden. Es heißt, die getrennten Zehen förderten das Gleichgewicht. Martin Margiela wiederum hatte in Tokio Straßenbauarbeiter beobachtet, die „Jika-Tabi“ trugen – Arbeitsschuhe mit Gummisohle und den charakteristisch gespreizten Zehen. Der Designer behielt die Form, fügte einen hohen, zylinderförmigen Absatz hinzu und kreierte gleich mit seiner ersten Kollektion ein Produkt, welches zum Emblem seines Hauses werden sollte.

Der Tabi gehört also zu Martin Margiela wie das Damier-Muster zu Louis Vuitton oder der Tweedstoff zu Chanel. Der Unterschied zu den anderen Modelabels lag jedoch darin, dass der Schuh immer auch eine subversive, rebellische Kraft innehatte. Seine außergewöhnliche, nahezu animalische Erscheinung machte den Tabi zu einem Accessoire, das bewusst nicht die Masse ansprach und somit gar keinen Trend setzen sollte. Nur rigorose Margiela-Anhänger wussten um den Appeal des Nischenschuhs. Der Tabi suggeriert ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer ausgewählten Gruppe an Menschen, die sich wirklich mit Mode und dem Designhaus auskennen. Ein Wiedererkennungsmerkmal eines inner circle, sozusagen. Die belgische Avantgarde-Designerin Ann Demeulemeester sowie die Modeprofessorin Linda Loppa sollen unter den ersten Tabi-Trägerinnen gewesen sein.

Schachzug auf Social Media

Über die Jahre entwickelten sich die kontroversen Stiefel zu einer Art kultureller Währung und signalisierten Insiderstatus. Ganz von der Bildfläche verschwunden waren sie deshalb nie, dann brachte sie ein Tiktok aus dem Jahr 2023 wieder ins Gespräch. Unter dem Titel „The Tabi Swiper“ erzählt eine junge Frau in dem Video, wie eine flüchtige männliche Bekanntschaft ihre geliebten Tabis aus ihrer Wohnung entwendet hatte, um sie seiner eigentlichen Freundin zu schenken. Der Clip ging nicht nur wegen seiner irrwitzigen Geschichte viral, er entfachte gleichzeitig eine Diskussion über die Schuhe selbst.

Eric, Mitglied der K-Popband „The Boyz“, stilecht bei der Eröffnung der Margiela-Boutique in Seoul 2024
Eric, Mitglied der K-Popband „The Boyz“, stilecht bei der Eröffnung der Margiela-Boutique in Seoul 2024picture alliance

Zwar ließen sich die Kommentare immer noch in Tabi-Befürworter und -Gegner aufteilen, doch schien der Schuh gleichzeitig für eine ganz neue und vor allem größere Zielgruppe begehrenswert zu werden. Durch die rasante Verbreitung auf Social Media gelangten die Tabi-Boots plötzlich in den Mainstream. Inzwischen häufen sich die Tiktoks über eigene Tabi-Sammlungen, Shopping- und Stylingvideos. Das Label bietet die Zehentrenner-Silhouette längst in verschiedenen Ausführungen an, etwa als Ballerina, Loafer oder als Mary Janes.

Den Hype belegen auch die Suchanfragen bei beliebten Reseller-Verkaufsplattformen. Bei Vinted etwa sind die Schlagworte „Margiela Tabi“ seit Ende 2024 stetig gestiegen. Im April dieses Jahres gab es einen Zuwachs von über 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, im Mai sogar über 75 Prozent. Auch auf Vestiaire Collective sind die Tabi Boots begehrt, das Interesse wachse aktuell stark, so heißt es auf Nachfrage. Allein von August bis September 2025 sind die Suchanfragen um 57 Prozent gestiegen. Google Trends bestätigt diese Tendenzen ebenfalls.

Somit ist es kaum verwunderlich, dass der Tabi über die Straßen der Modemetropolen hinaus kontinuierlich auftaucht: Frauen, Männer und Teenager sind ihm gleichermaßen verfallen; mittlerweile ist der polarisierende Schuh im Büro angekommen, auf Hochzeiten und sogar auf dem roten Teppich. Denn nicht nur in den sozialen Medien, auch in der Popkultur sind die Schuhe längst salonfähig. Trug früher eine Handvoll „waschechter“ Stilikonen wie Chloë Sevigny oder Björk das Schuhdesign des Labels, wurden mittlerweile auch kommerzielle Stars wie Kylie Jenner, Dua Lipa, Cardi B oder Pedro Pascal in dem Modell des Hauses abgelichtet.

Margiela-Tabi: Kurzweiliger Trend oder ewige Treue?

Nun ist die Frage durchaus berechtigt, ob ein Schuh mit solch einem Kultstatus nicht an Relevanz oder Attraktivität verliert, wenn ihn plötzlich jeder trägt. Stichwort: Übersättigung. Geht der inhärente Charakter des Tabi, nämlich ein Antischuh zu sein, damit nicht verloren? Fällt ein auffälliges, provozierendes Design überhaupt noch auf, wenn es überall zu sehen ist? Dieses Risiko birgt jede Trendwelle, die auf einem Nischenprodukt beruht. Man kann aber davon ausgehen, dass sich hier die „echten“ von den „unechten“ Fans – die early adopter von der late majority nach der Theorie des amerikanischen Soziologen Everett Rogers differenzieren: nämlich genau dann, wenn diejenigen die Tabi-Boots wieder abstreifen, wenn bereits der nächste Trend lockt. Für wahre Tabi-Liebhaber jedoch werden sie ihre modehistorische Bedeutung und das damit einhergehende Vermächtnis Martin Margielas ewig bewahren. Da trennt sich die Spreu vom Weizen – oder der große Zeh von den vier anderen.