
Die Tränen, die Diego Pablo Simeone nach dem 5:2-Sieg im Madrider Derby vom Samstag vergoss, mögen getrocknet sein. Aber sie sind nicht vergessen. Zu offensichtlich war, wie viel Druck vom argentinischen Trainer des Club Atlético de Madrid abgefallen war, als seine Mannschaft dem Ortsrivalen Real Madrid die heftigste Niederlage seit Jahrzehnten beigefügt hatte. Gerade noch rechtzeitig, wenn man so will – drei Tage vor der Visite von Eintracht Frankfurt in der Champions League am Dienstag (21 Uhr, Dazn).
Denn der Chor derer, die da meinen, der seit dem 23. Dezember 2011 amtierende Simeone, genannt „El Cholo“, sei schon viel zu lang bei Atlético, war in den vergangenen Monaten immer stärker angeschwollen. Zu defensiv und hasenfüßig sei sein Fußball, immer schon gewesen, es reicht, das war der Tenor von gar nicht mal so wenigen „Anti-Cholistas“. Nun der Triumph, die Tränen, die erneuerte Gewissheit, dass Simeone, 55, den Klub auf ein neues, vor ihm lange ungekanntes Wettbewerbslevel gehoben hat. Am Montag verkündete Marca, die Nachrichten vom angeblichen Exitus Simeones seien mal wieder verfrüht gewesen: „Ihr könnt die Lichter der Aussegnungshalle vorerst wieder ausschalten.“

:Alonso wirkt entwaffnet und angeschlagen
2:5 gegen den Stadtrivalen Atlético: Trainer Xabi Alonso muss sich nach der torreichsten Derby-Pleite seit 1960 die Frage gefallen lassen, ob Real für harte Gegner nicht gerüstet ist.
Vermutlich dürfte keiner ein besseres Näschen dafür gehabt haben, dass er auch um die Fortdauer als Trainer Atléticos spielt, als Simeone selbst. Nach der erfolglosen Teilnahme an der Klub-WM im Sommer missriet der Saisonstart in der Liga auf formidable Weise, auf eine Auftaktniederlage bei Espanyol Barcelona (1:2) folgten vergleichsweise blamable Unentschieden gegen Elche und Deportivo Alavés. Die Lage war prekär genug, dass Klubboss Miguel Ángel Gil Marín davon sprach, „zu 200 Prozent“ zu Simeone zu stehen.
Trotz dieser Äußerungen sagte der Coach, dass er mitnichten glaube, als Trainer von Atlético „gepanzert“ zu sein: „Dies ist immer noch Fußball, und das Normale ist, dass Trainer ausgetauscht werden. Ich erlebe hier das Anormale“, sagte er im Radiosender Cope. Hätte Real Madrid am Samstag gewonnen, so hätte Spaniens Rekordmeister nach sieben Spieltagen zwölf Punkte vor Atlético gelegen. So aber? Konnte der Abstand auf den entthronten Tabellenführer auf sechs Zähler verkürzt werden; der FC Barcelona ist sieben Punkte entfernt. Und Eintracht Frankfurt sieht nicht mehr gar so angsteinflößend aus, wie noch vor Wochenfrist.
Seit der Visite an der Anfield Road hat Atlético kein Spiel mehr verloren
Das liegt auch an einer Niederlage, erlitten in der ersten Champions-League-Nacht beim FC Liverpool. Genauer: an der Art und Weise, wie sie sich vollzog. In der Nachspielzeit traf Liverpools Virgil van Dijk per Kopf zum 3:2-Sieg der Reds. Haften blieb, dass sich Atlético zurückgekämpft hatte, nachdem es nach nur sechs Minuten 0:2 zurückgelegen hatte. „Dieses Spiel war der Wendepunkt“, sagt Kapitän Koke, 33. Das lässt sich auch durch Zahlen belegen: Seit der Visite an der Anfield Road hat Atlético kein Spiel mehr verloren.
Eine Erleichterung stellt das für Simeone auch insofern dar, als der Meister von 2021 enorme finanzielle Aufwendungen tätigte, um die Mannschaft nach seinem Gusto zu verstärken. Seit Sommer 2024 hat Atlético mehr als 300 Millionen Euro in neue Spieler investiert. Dabei kreist alles darum, dem Königstransfer aus 2024, Weltmeister Julián Álvarez aus Argentinien, eine wettbewerbsfähige Mannschaft hinzustellen. „Wir müssen ihn pflegen“, sagt Simeone. Allein: Atlético ist mit einer Summe im mittleren dreistelligen Millionen-Euro-Bereich verschuldet.

Weil insbesondere die Fantasie fehlt, wie die außerordentlichen Einnahmen gesteigert werden können – unter anderem wurden schon die Namensrechte an dem Stadion verkauft, das die Eintracht am Dienstag besucht –, plant Atlético eine Kapitalerhöhung. Sie solle noch in diesem Jahr rund 70 Millionen Euro erlösen. Damit sollen Bauten rund ums Stadion angestoßen werden. Es soll nicht nur ein neues Trainingszentrum, sondern es sollen auch ein Einkaufszentrum und Freizeitangebote entstehen. Seit einigen Wochen sind auch Aktienpakete im Gespräch. Miguel Ángel Gil Marín, der nicht nur Vorstandschef, sondern auch Hauptaktionär Atléticos ist, erwägt den Verkauf von Anteilen, das Gleiche gilt für Verwaltungsratschef Enrique Cerezo, die Risikokapitalgesellschaft Ares und die Holding Qantum Pacifics. Zurzeit laufen konkrete Gespräche darüber mit der US-amerikanischen Private-Equity-Gesellschaft Apollo; der Wert Atléticos werde dabei mit mehr als 2,5 Milliarden Euro veranschlagt, heißt es in Medienberichten.
Dass Atlético Geld gut gebrauchen kann, wurde in den vergangenen beiden Sommern deutlich. Franco Mastantuono ging von River Plate in Buenos Aires zu Real Madrid und nicht zu Atlético; von der erhofften Verpflichtung des vormaligen Stuttgarters Enzo Millot musste Atlético ebenfalls Abstand nehmen, ausgestochen vom saudischen Klub al-Ahli, der dem VfB knapp 30 Millionen Euro für Millot überwiesen haben soll.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Richtig vermisst wird Millot nicht. Insbesondere, weil Álvarez, 25, in erstaunlicher Form ist – und ihm ein Landsmann zur Seite gestellt wurde, der am Samstag nach dem 5:2 gegen Real mit einer Ovation verabschiedet wurde: Nico González, auch er ein früherer Stuttgarter. González ist Álvarez’ erster Fan, vor allem dessen direkt verwandelter Freistoß tat es ihm an. „Verrückt“ sei er, dieser „hijo de puta“, außerhalb des Platzes ruhig und gelassen, und auf dem Feld verwandle er sich, sagte er nach dem Derbysieg, der nur das Präludium sein soll für den ersten Champions-League-Sieg der Saison.