VAR-Diskussion in Köln: Ein Elfmeter, obwohl der Gefoulte weiterläuft? – Sport

Auf den originellen Jubel, sein Torjäger-Markenzeichen, verzichtete Ermedin Demirovic diesmal. Statt symbolisch das Hemd glatt zu streifen und imaginären Staub abzuschütteln, ballte er konventionell die Faust, nicht länger als einen Moment. Job erledigt, sollte das wohl bedeuten. Aber dass er den Job nicht mochte, das offenbarte Demirovic mit der nächsten Geste. Stuttgarts Angreifer ging ein paar Schritte auf Kölns Torhüter Marvin Schwäbe zu und gab ihm die Hand.

Was er damit aussagen wollte? Demirovic hat sich sicherlich nicht dafür entschuldigt, den Elfmeter ins Tor geschossen zu haben, nachdem ihn Schwäbe im Strafraum gefoult hatte. So einfach lag der Fall nicht. Eher schien Demirovic mit dem Handschlag ausdrücken zu wollen, dass er diesen Elfmeter nur ausgeführt, aber nicht verlangt habe. Und um noch kühner zu mutmaßen: Dass sie beide, obwohl sie als Stürmer und Torwart die Akteure sind, nichts zu melden hätten, wenn der VAR, das unbekannte Wesen, spricht.

Das Erstaunliche war, dass in dieses Bekenntnis der Ohnmacht vor dem Großen Bruder – alias Kölner Keller – auch Matthias Jöllenbeck hätte einstimmen können. „Der Schiedsrichter soll doch, wie wir alle wissen, immer Herr im Haus sein“, sagte Kölns Sportdirektor Thomas Kessler: „Heute war er die ärmste Sau im Stadion.“ Kessler meinte das nicht despektierlich und nicht vorwurfsvoll. Er hatte sich nach dem Spiel bei Jöllenbeck aus erster Hand informiert, auf welchem unzweideutigen Weg der Elfmeter zustande gekommen war, der nach Ansicht des FC-Managers die spielentscheidende Szene brachte: Der von Demirovic verwertete Strafstoß verschaffte dem VfB in der 23. Minute den Ausgleich nach dem frühen Kölner Führungstor durch Jakub Kaminski und bildete die Grundlage für den späteren 2:1-Erfolg. Josha Vagnoman gelang der späte Siegtreffer in einem Spiel, zu dem nach Ansicht beider Trainer ein Unentschieden besser gepasst hätte.

Dem Schiedsrichter tat sich ein Zwiespalt auf: zwischen Regelwerk, Recht, Sport und Moral

Ob der Elfmeter nun wirklich den Ausgang der Partie bestimmt hatte, wie Kessler behauptete, ist nicht zu beweisen und nicht zu widerlegen. Offensichtlich lag Kessler aber richtig mit seiner Einschätzung, dass Schiedsrichter Jöllenbeck in ein Dilemma geriet, als er auf Anraten des zuständigen Videorichters Günter Perl die Fernsehbilder sichtete. „Ich hatte den Eindruck, dass er den Elfmeter nicht geben wollte“, sagte Kessler. Minutenlang betrachtete Jöllenbeck die Szene, obwohl der Fall eindeutig war: Schwäbe hatte nach einer Rückgabe die Ballkontrolle verloren und dem nachsetzenden Demirovic einen mehr als nur oberflächlichen Tritt versetzt. Doch Demirovic lief geradewegs weiter und musste sich seinerseits nach dem Ball strecken, der ihm versprungen war. Dabei traf er den Kölner Verteidiger Timo Hübers am Schienbein, beide blieben mit Schmerzen am Boden liegen.

Erst nach ein paar Ballwechseln unterbrach Jöllenbeck das Spiel, um eine Behandlung zu ermöglichen. Während der Pause entstand auf einmal, wie Zeugen berichteten, Tumult auf der Stuttgarter Ersatzbank. Dort hatten Betreuer inzwischen auf einem Tablet die Wiederholung der TV-Bilder gesehen. Prompt reklamierten sie beim vierten Schiedsrichter Strafverfolgung, auch Chefcoach Sebastian Hoeneß zeigte pantomimisch einen Tritt an. Schließlich meldete sich per Funk der VAR bei Jöllenbeck.

Dem Schiedsrichter tat sich nun, am Bildschirm stehend, ein Zwiespalt zwischen Regelwerk, Recht, Sport und Moral auf: Einerseits war Demirovic getreten worden, also Elfmeter. Andererseits war er weitergelaufen, warum also Elfmeter? Weder Demirovic noch sonst ein VfB-Spieler hatten sich beschwert.  Letztlich sah sich Jöllenbeck, im Zivilberuf Orthopäde, dem Legalitätsprinzip verpflichtet: Die Straftat war zu verfolgen und zu ahnden. Was hätte er zu hören bekommen, wenn er anders gehandelt hätte?

Kölns Trainer Lukas Kwasniok kritisiert den detektivischen Eifer des Video-Aufsehers

„Wenn Ermedin sofort fällt, gibt es gar keine Diskussion“, stellte VfB-Trainer Hoeneß fest. So aber habe sich Jöllenbeck fragen müssen: „Soll er (Demirovic) dafür bestraft werden, dass er weiterläuft?“ Auch Schwäbe erkannte an: „Wenn man die Bilder sieht, muss er ihn geben.“ Kölns Trainer Lukas Kwasniok kritisierte nicht den Elfmeter-Entscheid, sondern den detektivischen Eifer des Video-Aufsehers Günter Perl und die Institution VAR an sich – mit einem Ausspruch, der zum geflügelten Wort taugt: „Ich war kein Freund des VAR, ich bin kein Freund des VAR, und ich werde nie ein Freund des VAR sein.“

Am Sonntag standen die TV-Bilder gegen die sportlichen Tatsachen, die Demirovic aus Überzeugung geschaffen hatte. Er sei, „das ist mein Naturell“, kein Spieler, der sich bei Fremdberührung fallen lasse, auch wenn ihm das die Kollegen manchmal nahelegten. Für die Kölner sei die Intervention des VAR „bitter“ gewesen, befand der Angreifer mitfühlend.

Was lehrt die Geschichte? Mehr Demirovic, weniger VAR und Video – das könnte eine der Lösungen im Konflikt um den Videoschiedsrichter im Fußball sein.