Schalke 04 in der 2. Liga: Aus dem Krisengebiet in die Spitzengruppe – Sport

Vitalie Becker war im Sommer bereits nach Österreich gereist und hatte erste Eindrücke von der neuen Heimat und dem neuen Klub gesammelt. Beim Erstliga-Aufsteiger SV Ried sollte der 20-Jährige nach dem Wunsch von Schalke 04 ein Lehrjahr als Leihspieler einlegen, die Formalitäten waren schon geklärt. Im sportlichen Management unter der Aufsicht des während der vorigen Woche entlassenen Kaderplaners Ben Manga sah man keine Verwendung für den Juniorennationalspieler, der zwar seit Kindertagen dem Klub angehört, bisher aber nur ein paar Einsätze in der Regionalliga vorweisen konnte.

Bis Schalkes neuer Trainer Miron Muslic ein Veto einlegte und den Transfer vorläufig stoppte. Und was soll man sagen? Inzwischen ist der aus Bottrop stammende Linksverteidiger Becker Stammspieler, und ein höchst brauchbarer obendrein, wie er am Freitagabend beim 1:0-Sieg gegen die SpVgg Greuther Fürth zum wiederholten Mal unter Beweis stellte.

„Weil wir sehr schlau sind“: Eigenlob ist wieder erlaubt auf Schalke 04

Beckers unverhoffte Karriere steht stellvertretend für den nicht weniger unverhofften Aufschwung seiner Mannschaft. Die sportliche Konjunktur mit fünf Siegen in sieben Spielen weckt verborgene Sehnsüchte in der leicht entflammbaren königsblauen Gemeinde. Dem mit bescheidenen Mitteln konstruierten Team hätte vor der Saison niemand einen Platz in der Spitzengruppe der zweiten Liga zugetraut. Nach zwei furchterregenden Krisenjahren wünschten auch die Funktionäre nicht mehr als eine sorgenfreie Saison, und nun weiß man in Gelsenkirchen nicht, ob man die Träume demnächst vielleicht reformieren muss.

Der Torschütze von Freitagabend, Finn Porath, verwies bereits auf Tendenzen, die ihn an den Aufstieg mit Holstein Kiel erinnerten. „Da war auch ein Spirit da. Ich bin erst drei Wochen hier, aber ich merke, dass alles in eine Richtung geht“, stellte der Mittelfeldspieler fest, der im August noch in Kiel unter Vertrag gestanden hatte. Aus den Erfahrungen der launenhaften zweiten Liga weiß Porath, 28, dass ein Aufstieg selten durch Berechnung und Planung zustande kommt. Sondern häufig – „die zweite Liga ist verrückt“ – das Ergebnis von Eigendynamik und Stimmungen ist.

In Gelsenkirchen war die Stimmung am Freitagabend so unbeschwert wie seit vielen Jahren nicht mehr. Führende Mitarbeiter des Klubs aus der Abteilung Troubleshooting dürfen sogar mitten im Spielbetrieb in den Urlaub gehen. Ausnahmsweise gibt es keinen der multiplen Notfälle zu managen, die Schalke den Ruf als ständiges Krisengebiet des deutschen Fußballs eingetragen haben. Selbst die Entlassung von Ben Manga, der im vorigen Jahr noch als der Hoffnungsträger schlechthin begrüßt worden war, ließ tragfähige Skandalqualität vermissen.

Letztlich sind es die gelungenen Entscheidungen von Sportvorstand Frank Baumann, die zum Verzicht auf Mangas weitere Mitarbeit führten. In Schalkes Abwehrreihe waltete am Freitagabend ein Spieler, den die Spezialisten aus Mangas Scouting-Team so wie Vitalie Becker nicht für tauglich befunden hatten. Es gebe bessere Optionen als Hasan Kurucay, lautete der Befund. Auf Baumanns Veranlassung gab der Klub dem in Dänemark geborenen Innenverteidiger trotzdem einen Zweijahresvertrag. Eine Ablöse fiel nicht an – Kurucays Engagement beim belgischen Erstligisten Leuven war ausgelaufen.

Und was soll man sagen? Kurucay, längst Stammspieler, sah gegen Fürth aus wie ein Multi-Millionen-Transfer: Mit seiner Zweikampfstärke trug er wesentlich dazu bei, das Pressing abzusichern, außerdem verteilte er Pässe, auf die auch Mats Hummels stolz wäre. Einer davon: das Zuspiel auf Kapitän Kenan Karaman vor dem 1:0. Aber warum hatte im Sommer kein Erstligist die Schalker aus dem Geschäft mit Kurucay gedrängt? „Weil wir sehr schlau sind“, erwiderte – nicht ausschließlich selbstironisch – Sportdirektor Youri Mulder.

Der neue Trainer pflegt den kernigen Auftritt

So viel Eigenlob hat sich der Verein schon lange nicht mehr rechtmäßig aneignen dürfen. Auch bei der Wahl des Trainers sehen sich die Verantwortlichen um den mit ruhiger Hand lenkenden Baumann bestätigt. Miron Muslic war anderen deutschen Klubs, die gerade einen Trainer suchten, ebenfalls angeboten worden. Schalke griff zu, und der aus Bosnien stammende, in Österreich aufgewachsene Muslic, 43, ist in Gelsenkirchen längst so populär wie ein Mann, der eine Runde Freibier nach der anderen ausgibt. Passend zum markanten Barbershop-Bart pflegt der Trainer den kernigen Auftritt. Wenn er mit einem Spieler abklatscht, dann klingt das nicht nach einem Handschlag – es hallt wie ein Pistolenschuss durch den Raum. Dass er mit seiner intensiven Art neues Leben in die Mannschaft gebracht hat, ist offensichtlich. Der schweizerische Rechtsverteidiger Adrian Gantenbein etwa, im Vorjahr ein Besetzungsproblem, ist nun vor lauter Zielstrebigkeit und Entschlossenheit gar nicht mehr wiederzuerkennen.

Nach den ersten Spielen war noch moniert worden, dass Miron Muslic eher Kampfsport als Fußball lehren würde. Dank der komplett und effektiv runderneuerten Abwehrreihe funktionierte zwar die Defensive wieder, offensiv aber herrschte Trübsal. Mancher kritische Beobachter, der immerzu einen „Plan B“ eingefordert hatte, sah am Freitagabend allerdings ein Schalker Team, das ungeahnte Angriffsqualitäten entfaltete. „Ein Drive“ sei entstanden, beschrieb Torschütze Finn Porath die dynamische Entwicklung. Das Reiseziel muss erst mal offenbleiben, aber dass die Richtung stimmt, ist für Schalker Verhältnisse schon ein kolossaler Fortschritt.