
Can Uzun steht seit Sommer 2024 bei Eintracht Frankfurt unter Vertrag. Bis heute hat der Neunzehnjährige erst eine Bundesligapartie von Anfang bis zum Ende für die Frankfurter bestritten, vorigen Sonntag beim 3:4 gegen Union Berlin. In der vergangenen Saison wurde er vierzehnmal eingewechselt, wurde vom Trainer sechsmal vorzeitig vom Rasen abberufen und stand vierzehnmal gar nicht im Kader.
Das hatte auch Folgen für Markus Krösche. Der Sportvorstand der Hessen musste wiederholt Angehörige des Offensivspielers besänftigen, die ihm am Telefon für die in ihren Augen nicht angemessene Berücksichtigung ihres Lieblings zur Rede stellten. Auch Offizielle des türkischen Fußballverbandes meldeten regelmäßig Gesprächsbedarf an.
Gemessen an der großen Erwartungshaltung, die durch viele kleine Vorannahmen auf seine Person projiziert wurden, ging der Youngster erstaunlich cool mit der Situation um – und nutzte den Sommer, um sich auf ein zweites Vertragsjahr individuell so vorzubereiten, dass er sich dem Konkurrenzkampf mit mehr Durchsetzungsvermögen stellen kann. Sein persönlicher Plan, dies zeigen die vergangenen Wochen seit dem Pflichtspielstart im August, ging auf.
„Eine der außergewöhnlichsten Begabungen“
Als für ihn am Samstag abermals vorzeitig Schluss war und er seinen Platz nach rund einer Stunde für Mario Götze räumte, begegneten sich an der Seitenlinie zwei Eintracht-Profis, von denen der Weltmeister von 2014 eine große Vergangenheit vorweisen kann und dem in Regensburg geborenen Deutsch-Türken eine goldene Zukunft prophezeit wird. Uzun wirkte über die Entscheidung Dino Toppmöllers, dass er besser vorzeitig unter die Dusche gehen soll, um Kräfte für kommende Herausforderungen zu sparen, bei Weitem nicht so unglücklich wie ehedem in denselben Situationen: Coach und Spieler nahmen sich demonstrativ in den Arm.
Mit seiner aktuellen Form gehört Uzun zu den herausragenden Akteuren der Mannschaft, die sich am Samstag 6:4 in Gladbach durchsetzte – und dabei einmal mehr von seiner Power und Entschlossenheit profitierte. Sein Treffer zum 5:0 (45. Minute +1) gehörte zu den sehenswertesten, die es ligaweit bislang zu sehen gab. Uzun initiierte den Vorstoß von links in den Strafraum, bekam den Ball per Hacke von Farès Chaïbi zurückgepasst und schloss mit einem Schlenzer mit dem rechten Fuß in den Winkel unhaltbar ab. Damit erzielte er als erster Frankfurter Fußballprofi an den ersten fünf Spieltagen jeweils ein Tor. „Das Finish war herausragend“, befand Toppmöller, der den Angriffsbeschleuniger auf einem „richtig guten Weg“ wähnt.
Im Juni hatte Uzun in den Wochen vor dem offiziellen Trainingsauftakt einen privaten Fitnesscoach engagiert und im Schweiße seines Angesichts drei Kilo an Muskeln zugelegt, bevor die anderen aus dem Urlaub zurückkehrten. Mit gestähltem Körper, mehr Eigeninitiative und einem größeren Aktionsradius, der nun auch Sprints zurück an den eigenen Strafraum beinhaltet, ist er eine Kraftquelle für Toppmöllers Truppe, die in der ersten Halbzeit den Konkurrenten dominierte und die Gladbacher Defensivreihen nach allen Regeln der Kunst überwand. Das aggressive Pressing griff, weil Chaïbi, Ansgar Knauff, Jonathan Burkardt und Ritsu Doan stets einen Schritt schneller und gedanklich vorausschauender in die Duelle gingen.
Ein Verein mit der großer Wachstumsfantasie
Dass der Ort des TV-Topspiels einer war, mit dem sich in Frankfurt noch vor gar nicht langer Zeit sportlich eine Art Fernweh verband, verleiht dem Ergebnis eine weitere Bedeutungsebene – und führt vor Augen, wie schnell es in diesem Metier auf-, aber eben auch abwärts gehen kann, wenn sich (zu) viele Entscheidungen als nicht tragfähig entpuppen. Mönchengladbach ist eine Erinnerung daran, wohin die SGE einmal wollte, als sie sich selbst noch als Verfolger begriff und Adi Hütter 2021 seine Zukunft lieber am Niederrhein als am Main sah. Heute wirkt diese Entscheidung wie ein Anachronismus. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt: Frankfurt ist dank klugem Management und optimal verlaufener Transferperioden zu einem Klub mit Champions-League-Format gereift – und neben Bayern und Dortmund der Verein mit der größten Wachstumsfantasie.
Uzun wurde dabei längst intern ein „Preisschild“ umgehängt. Sein Vertrag ist gültig bis Mitte 2029, sein Marktwert beträgt nach Angaben des Portals „Transfermarkt.de“ momentan 18 Millionen Euro, was einen ordentlichen Sprung bedeutet, wenn berücksichtigt wird, dass die Eintracht ihn vor 15 Monaten für rund zehn Millionen Euro dem 1. FC Nürnberg abwarb. Sollte es auch Uzun, wenn er denn so weiter auftrumpft, eines nicht allzu fernen Tages wie Marmoush, Pacho oder Ekitiké aus Frankfurt fortziehen, müssen potentielle Arbeitgeber tief in die Tasche greifen. Dem Vernehmen nach ist Krösche erst ab einem Gebot von 80 Millionen Euro bereit, sich unter Umständen mit einem möglichen Wechsel zu beschäftigen. Zukunftsmusik.
Im Alltag geht es für die Eintracht Schlag auf Schlag weiter. Das Champions-League-Spiel in Madrid gegen Atlético an diesem Dienstag (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Champions League und bei DAZN) und das Ligaspiel am Samstag (18.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Bundesliga und bei Sky) zuhause gegen den Münchner Rekordmeister bieten Bühnen, auf denen Uzun seinen Status als Shootingstar untermauern kann. Atlético bekräftigte nicht zuletzt durch das 5:2 am Wochenende im Stadtderby gegen Real seinen Favoritenstatus. „Wir sind gewappnet“, sagte Uzun dennoch vor dem Aufbruch am Montag nach Spanien. Er erwartet im Metropolitano Stadion einen „krassen und ekligen Gegner“ – gegen den sie sich nicht erlauben dürfen, in den Larifari-Modus zu schalten wie am Samstag, als die Borussia in der Schlussphase das Ergebnis durch vier Tore aus ihrer Sicht noch erträglicher gestaltete.
Diego Simeone, der Atlético-Coach, ist Verfechter eines Rambo-Fußballs, dem die Eintracht nur Paroli bieten kann, wenn sie ununterbrochen konzentriert und widerstandsfähig bleibt. Nach der scheinbar beruhigenden Führung durch weitere Treffer von Robin Koch (11., 47.), Knauff (15.), Burkardt (35.) und Chaïbi (39.) wollte sie in Gladbach im Verwaltungsmodus über die Zeit kommen, was Nerven kostete. „Das Ergebnis spiegelt ein Stück weit unseren Entwicklungsprozess wider“, urteilte Krösche milde. „Dass wir gewisse Fähigkeiten und Qualität nach vorne haben und es auch defensiv und im Gegenpressing gut gemacht haben, im Anlaufen gut waren und schöne Tore gemacht haben, ist ein Teil von uns. Aber wir haben noch nicht die Ruhe, solch ein Spiel runterzuspielen. Das müssen wir lernen.“
„Wenn du das nicht machst, bekommst du Gegentore“
Toppmöller räumte ein, dass hinterher eine „gedämpfte“ Stimmung geherrscht habe, obwohl sie es „siebzig Minuten fantastisch gemacht“ haben. Durch die Wechsel, die er trotzdem jederzeit „noch mal“ so vornehmen würde, um die Belastung zu verteilen, sei die „Struktur verloren“ gegangen. Und das bevorstehende Auswärtsdebüt in der Königsklasse habe „unterbewusst bei dem ein oder anderen“ eine Rolle gespielt. „Der Fokus muss immer da sein. Die, die reinkommen, müssen sich nahtlos einfügen. Und wenn du das nicht machst, bekommst du Gegentore.“ Er sieht seine junge Mannschaft (Durchschnittsalter 24,1 Jahre) in einem anhaltenden „Reifeprozess“.
Was Toppmöller so explizit nicht formulierte, aber nicht weniger zum Erkenntnisgewinn gehörte: Für ihn, dem durch das Fehlen von Rasmus Kristensen (Oberschenkelblessur) ein erfahrener und nervenstarker Kandidat nicht zur Verfügung steht, ist durch zwei diametral unterschiedlich verlaufene Halbzeiten in Gladbach deutlicher geworden, auf wen aktuell Verlass ist – und auf wen eher nicht. Wobei sich das in einer Saison, die noch immer am Anfang steht, schnell ändern kann. Uzun hat es vorgemacht.