Eugen Polanski: Der mit dem Löwen kuschelt

In
unserer Kolumne „Grünfläche“ schreiben abwechselnd Oliver Fritsch,
Christof Siemes, Stephan Reich und Christian Spiller über die Fußballwelt und
die Welt des Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am
Wochenende
, Ausgabe 39/2025.

Einer der Hot Takes, der
steilen Thesen, die wir hier vor dem
Bundesligastart rausgehauen haben, hat sich bereits bewahrheitet, jedenfalls
teilweise: Gerardo Seoane ist zwar nicht als erster, aber immerhin als zweiter Trainer der Saison entlassen worden. Ob auch noch sieben weitere seiner Kollegen vorzeitig die Papiere bekommen, wie
wir prognostiziert haben, muss sich erst noch weisen. Aber selten hat ein
Blitz-Aus gleich so viel Wirkung gezeigt wie nun bei Borussia Mönchengladbach.
Und das freut mein Fohlenherz.

Der stets streng gescheitelte und
selten überschwängliche Schweizer Übungsleiter passte nie so recht an den
Niederrhein, wo man sich seit Urzeiten wie eine Herde junger Pferde für
unzähmbar hält. „Wie der
Stellvertretungslehrer, dessen einzige Aufgabe es ist, dass sich keiner wehtut
und niemand verloren geht, betreute er die ihm vom Geschäftsführer anvertraute
Gruppe von Fußballern“, heißt es über Seoane im Nachruf des Fan-Blogs borussiaxplained, „ein für lange
Zeit vorbildlicher Beamter im Denkmalamt Borussia Mönchengladbach.“

Geradezu
euphorisch wurde deshalb der Neue begrüßt: Bogusław Eugeniusz
Polański, in Polen geborener Ur-Borusse, der mit seinen Eltern als Zweijähriger
an den Niederrhein kam und schon mit sechs Jahren zum Verein stieß, in dem er
2004 Profi wurde. In 254 Bundesligaspielen (später auch für Mainz und
Hoffenheim) bekam er 59 Gelbe Karten, was dem defensiven Mittelfeldspieler den
Ehrentitel eines echten Kampfschweins eingebracht hat. So einen, heißt es rund
um den Borussia-Park allenthalben, kann die kopflose Truppe, die gerade von
Werder Bremen auf eigenem Geläuf mit einem 0:4 gedemütigt wurde, gut
gebrauchen. Bislang trainierte Polanski, der in deutschen Nachwuchsmannschaften
61 Länderspiele absolvierte und später 19-mal für Polen antrat, Gladbachs
zweite Mannschaft in der Regionalliga.

Und nur sechs Tage nach seiner Beförderung
zum Cheftrainer scheint ihm eine Art Wunderheilung gelungen. Waren die
Seoane-Zeiten geprägt von Schwachstromauftritten und bitteren Gegentoren in den
Schlussminuten, glückte nun mit purer Willenskraft auf den letzten Drücker ein
Unentschieden gegen den „Toptoptop-Gegner“ (Polanski) Leverkusen. Was dem Neuen
im ersten Überschwang den schönen freudschen Versprecher eingab, man habe „am
Ende verdient gewonnen“. Das wäre dem kontrollierten Herrn Seoane nie rausgerutscht.

„Eugen ist in die Köpfe der Spieler
gekommen“, sagte Roland Virkus, Borussias Sportdirektor, der einst selbst als
Leiter der Gladbacher Nachwuchsabteilung den jungen Polanski trainierte. Aber
wie hat sein Zögling das gemacht? Kapitän und Mannschaftsrat, die von neuen
Trainern gern verändert werden, um das berühmte Zeichen zu setzen, ließ er
unangetastet. Zu seiner simplen taktischen Devise „Mitte zu“ gab es nach den
desaströsen Auftritten zuvor eh keine Alternative; mit einer 5-2-3-Formation
fand er immerhin eine Betonmischung, die einigermaßen hielt. Mut bewies er bei
seinen Einwechslungen: Sechs Minuten stand der Bundesligadebütant Charles Herrmann
erst auf dem Platz, da trat er schon die Ecke, die zum ersten Saisontor der
Borussia führte; der 19-Jährige ist Stammkraft in Polanskis Viertligateam. Den
Ball rein machte der bislang glücklose Haris Tabaković, auch er erst kurz zuvor
eingewechselt.

So viel Spielglück muss man erst mal haben,
zumal Polanski bereitwillig zugab, dass das „in game coaching„, also die
Reparaturarbeiten bei laufendem Spiel, in der Bundesliga eine ganz andere
Herausforderung seien als in Liga 4. Am erstaunlichsten freilich war die völlig
veränderte Ausstrahlung der gesamten Mannschaft, die noch eine Woche zuvor so
ängstlich wirkte. Es sah aus, als habe Polanski seine neuen Schützlinge mit dem
knapp dreiminütigen Motivationsvideo malträtiert, das sich ganz oben im
spärlich bestückten Instagram-Account des Trainers findet. Es dreht sich reichlich
martialisch um die Frage, wie der Löwe, der doch nicht der Größte, Schnellste
oder Klügste ist, zum König des Dschungels werden konnte. Antwort: wegen seiner
„Mentality“, seiner Furchtlosigkeit und seinem nie erlahmenden Jagdeifer. Ein noch
viel älterer Post zeigt Polanski, wie er in Dubai mit einem Löwenjungen
kuschelt.

Und, verzeihen Sie diesen einen Vergleich mit
einem Tier, versucht er nicht selbst, ein bisschen Löwe zu sein – die langen
Haare, der feste Blick, die beeindruckenden Tattoos? „Leidenschaft ist die
Basis von allem“, hat Polanski bei seiner Vorstellung als Cheftrainer gesagt. „Die Spieler,
die nicht spielen, können wütend auf mich sein, aber sie sollen Energie
reinbringen.“

Aber
Energie allein gewinnt keine Spiele, mitunter ist sie sogar kontraproduktiv,
wie Polanski selbst am Beispiel seiner Premiere erklärte: Nach dem Leverkusener
Führungstreffer sei seine Mannschaft „zu wild“ gewesen, die Spieler wollten
„gleich all in gehen und verlieren Zweikämpfe oder den Ball“. Er ist
eben nicht nur der Ex-Profi, der sich mit der komplexen Gefühlswelt einer
Mannschaft auskennt, sondern hat sich bei seinen eigenen Trainern jede Menge
Handwerk abgeschaut: bei Jupp Heynckes „das Menschliche“, bei Thomas Tuchel in
dessen Mainzer Zeit die Detailversessenheit. Damals kam Polanski, nach einem
Jahr als Spielmacher beim FC Getafe, aus Spanien zurück, „wo alles ein bisschen
lockerer war“. Und dann habe Tuchel ihn kritisiert, wenn er mal 20 Zentimeter
zu weit links gestanden sei. „Da denkt man sich: Was will der von mir? Beim
Spiel aber merkt man, dass diese 20 Zentimeter echt helfen können. Da hab‘ ich
gelernt, dass man nicht nur trainiert, weil gerade Training ist, sondern weil
du besser werden willst.“ Den größten Einfluss auf den Trainer Polanski hat
aber wohl Julian Nagelsmann gehabt, der sei damals in Hoffenheim „noch ’n
Ticken lösungsorientierter und dabei menschlicher“ gewesen und „nicht umsonst
jetzt Bundestrainer“.

Bedingungslos
vertraut die Gladbacher Vereinsführung Polanskis einzigartiger Mischung von Stallgeruch
und Expertise aber noch nicht, da mögen sich die Fans noch so sehr in
Vergleiche hineinsteigern, ihr Eugen sei so etwas wie der „deutsche Xabi
Alonso“. Roland „Don Rollo“ Virkus betont immer wieder, der Novize sei
lediglich „bis auf Weiteres“ im Amt. Vielleicht ist also mein Hot Take,
dass Polanski die Borussia noch in den Europapokal führt, schon in zwei Wochen
genauso verglüht wie der des Kollegen, der eine Ladehemmung bei Harry Kane
prognostizierte. Polanski selbst scheint für alles, was ihm widerfahren wird,
bestens gerüstet: Auf seinem Rücken prangt das mächtige Tattoo eines Mannes mit
Flügeln, der nach oben strebt und nach unten blickt. Ein Ikarus mit Bodenhaftung
– das könnte was werden.