
Unter der Woche saß Oliver Burke, 28, nach einer Trainingseinheit mit nahezu nackten Beinen im Pressesaal des Fußballstadions An der Alten Försterei und gab preis, was normalerweise die Stutzen verdecken: zwei Tätowierungen. Über dem linken Schienbein des Angreifers des 1. FC Union Berlin war „Roman“ zu lesen, „der Name meines Sohnes“, wie er erklärte, über dem rechten das Wort „Karma“. Karma? Jenes spirituelle Konzept, das man aus der Welt indischer Religionen kennt? Das Wort habe ihm einfach gefallen, sagte Burke und klang, als messe er dem keine weitere Bedeutung bei. Schon gar nicht jene, die von Wiedergeburten kündet oder dem schicksalsträchtigen Ursache-Wirkungs-Prinzip. Obwohl er, andererseits, mit Bestimmtheit etwas sagte, was schon nach Geburt klang, oder dass da irgendetwas geschehen ist, was nun einen Effekt zeigt: „Jetzt, mit 28 Jahren, ist die Zeit gekommen, meinen besten Fußball zu zeigen.“
Im heimischen Schottland dürfte es gar nicht mal so wenige Menschen geben, die das ähnlich formulieren würden. Nur schärfer, im Sinne von: Es wird wirklich Zeit. Nach seinem Länderspieldebüt als 18-Jähriger kamen nur zwölf weitere Einsätze im schottischen Nationaldress dazu; und das entsprach oder entspricht ganz und gar nicht den Erwartungen, die Burke weckte.

:„Neulich habe ich gehört, ich sei streng …“
Ihm eilt der Ruf voraus, nett zu sein: Vor dem Spiel beim FC Bayern erklärt Horst Steffen, nach welchen Prinzipien er seine Elf führt, wie er in Bremen empfangen wurde – und was er über Videospiele von Victor Boniface denkt.
Schon zu seinen Zeiten im Nachwuchs des früheren Landesmeisterpokalsiegers Nottingham Forest wurde er mit einem Etikett versehen, das ihm lange anhaftete und ihn auch über Gebühr belastete: „der schottische Gareth Bale“. Das lag nicht zuletzt daran, dass er, wie der echte Bale aus Wales, ein irrwitzig hohes Tempo gehen konnte. Im Alter von 13 Jahren lief er die 100 Meter in elf Sekunden. Burke ist immer noch schnell, eine Eigenschaft, die er den Genen im Allgemeinen und seiner Mutter im Besonderen zuschreibt, sie sei eine gute Athletin gewesen.
Nur: Mitunter konnte man den Eindruck bekommen, dass Burke unterwegs den Ball vergaß. Oder, wider die alte Fußballweisheit, schneller war als der Ball. Oder falsche Entscheidungen traf. Oder alles zusammen. Am vergangenen Wochenende während des 4:3-Auswärtssiegs bei Eintracht Frankfurt aber passte alles auf so formidable Weise, dass die Fans von Union dem Spiel gegen den Hamburger SV (Sonntag, 19.30 Uhr, Dazn) mit Vorfreude entgegenblicken. Denn Burke erzielte drei Tore in einem Spiel.
Es war der erste Hattrick seiner Profikarriere. Alle drei Tore erfolgten auf Vorarbeit von Sturmpartner Andrej Ilic, waren doch von unterschiedlicher Bauart und bildeten, wie Burke fand, all seine Stärken ab: „Ich habe gezeigt, was ich auf den Tisch bringen kann.“
Das erste Tor war die Krönung eines Sprints über den halben Platz, er legte den Ball neben den Torwart ins Netz. Das zweite war ein überaus wuchtiger Kopfball. Und dann war da dieses dritte, das ihm besonders gut gefiel: „Ein kleiner Chip“ über den herausstürzenden Torwart hinweg, der wirklich hübsch anzusehen war, aber ihm vor allem gefiel, weil er „in Ruhe vollendet“ habe: „Ich hatte, offen ersichtlich, viel Selbstvertrauen.“
„Alle wissen, dass meine Karriere verrückt ist. Aber weißt du was? Es ist meine Reise! Ich akzeptiere das!“
Das war schon in der vergangenen Saison so, als er noch bei Werder Bremen spielte – zum dritten Mal in seiner Karriere. Es war mit sechs Pflichtspieltoren die beste Spielzeit seiner Laufbahn, in Bremen hatten sie sich Hoffnungen gemacht, dass er am Osterdeich bleiben würde. Sie wurden enttäuscht.
Ursprünglich wollte Werder seinen Vertrag allenfalls leistungsbezogen verlängern. Dann aber startete er – nach der Geburt seines Sohnes – durch und lief der Nachwuchshoffnung Justin Njinmah in den Augen von Trainer Ole Werner den Rang ab. Werder besserte das Angebot nach, am Ende waren alle Forderungen, die Burke gestellt hatte, erfüllt. Doch als es schriftlich vorgelegt war, stellte sich heraus, dass Burke eine Offerte von Union Berlin eingeholt hatte, die angeblich 50 Prozent über dem letzten Angebot Werders lag. In Medien war von einem Monatsgehalt von 100 000 Euro die Rede. „Ich habe auch Bremen geliebt – den Ort und die Menschen“, sagt Burke. „Aber ja, hier (in Berlin) lasse ich mich gerade nieder.“
Es ist mutmaßlich nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass Burke genau danach lechzt. Andererseits: Seine noch junge Familie lebt weiterhin auf der Insel, Ehefrau Megan McKenna, 33, verfolgt als Schnulzensängerin und sogenannte „TV-Persönlichkeit“ eine ortsgebundene Karriere. Burke hingegen erfüllt die Kriterien eines Zimmermanns: Nach seinem Wechsel aus Nottingham nach Leipzig reihte er 14 Vereinswechsel aneinander. Er kehrte nach England zurück, wurde nach Spanien verliehen und spielte in Schottland. „Alle wissen, dass meine Karriere verrückt ist. Aber weißt du was? Es ist meine Reise! Ich akzeptiere das!“, sagt er.
Was er ebenfalls mit Bestimmtheit sagt: Er fühlt sich wohl bei Union, im Stadion An der Alten Försterei. „Meine Mannschaftskameraden und der Stab haben mir wirklich von der Minute meiner Ankunft das Gefühl gegeben, willkommen zu sein, und das spielt für einen Fußballer auch eine große Rolle.“ Rein sportlich passt es ebenfalls, denn im Angriff erweckt Union – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – den Eindruck, eine gute Arbeitsteilung gefunden zu haben. Neben Burke und Ilic, 25, spielt dort auch Ilyas Ansah, 20, eine Rolle. Sie reißen hinter den gegnerischen Abwehrketten Räume auf, in die er hineinstoßen kann. „Wir haben viel Power, Stärke, Speed“, schwärmt Burke und klingt, als spreche er von Unions neuem Karma.