Die Film-App Letterboxd: Der Kinobesuch wird zum Statussymbol

Es fängt an wie ein Filmklassiker: boy meets girl. Beim ersten Treffen sitzen sie sich im Restaurant gegenüber, unterhalten sich, sind neugierig aufeinander. Das Gespräch wandert von den Erlebnissen des Tages zu Hobbys und landet irgendwann bei einem Klassiker unter den Kennenlernfragen: „Und, was ist dein Lieblingsfilm?“ Früher hätte sich daraus ein spannendes Gespräch ergeben. Heute kann es durchaus vorkommen, dass der Mann oder die Frau dann ganz und gar nicht klassisch das Handy rausholt, die App Letterboxd öffnet und völlig unromantisch sein oder ihr Profil präsentiert (falls die beiden das nicht eh schon vorher auf der Dating-App ausgetauscht haben).

Letterboxd ist eine Art digitales Notizbuch, in das Nutzer die Filme eintragen können, die sie gesehen haben. Außerdem kann man thematische Listen zusammenstellen, es gibt die Möglichkeit, jeden Film auf einer Sterneskala von eins bis fünf zu bewerten, eine Rezension zu schreiben oder in einer „Watchlist“ zu vermerken, welche Filme man unbedingt sehen will. Im Profil kann man außerdem seine vier Lieblingsfilme hinterlegen, und natürlich ist es möglich, seinen Freunden zu folgen. Die App wurde 2011 von Matthew Buchanan und Karl von Randow entwickelt, zwei neuseeländischen Programmierern. 2012 ging die erste Version an den Start.

Martin Scorsese, Wim Wenders oder Sean Baker sind dabei

Bis zur Pandemie war Letterboxd vor allem ein Tummelplatz für Cinephile und Filmnerds. Seit 2020 explodieren die Nutzerzahlen, von 1,8 Millionen stiegen sie auf aktuell rund siebzehn Millionen Nutzer, unter ihnen auch zahlreiche Prominente. Regisseure wie Martin Scorsese, Wim Wenders oder Sean Baker sind etwa dabei, genauso wie Popstar Charli xcx oder die Schauspielerin Ayo Edebiri, die mit der Serie „The Bear“ bekannt wurde. Außerdem produziert Letterboxd Videos für Youtube, Instagram und Tiktok, in denen Reporter Stars auf dem roten Teppich auflauern, um sie ad hoc nach den „Top Vier“ ihrer Lieblingsfilme zu befragen. Diese kurzen Videos, perfekt zugeschnitten auf die Social-Media-Plattformen, erreichen vor allem auf Tiktok ein Millionenpublikum.

Wissenschaftlich gesprochen könnte man sagen, dass auf Letterboxd vor allem quantitative Daten gesammelt werden. Zwar besteht auch die Möglichkeit, in den Rezensionen die qualitativen Urteile der Nutzer durchzulesen, der Erkenntnisgewinn variiert dabei aber deutlich. Bei vielen Filmen bestehen die Topkommentare vor allem aus witzigen Einzeilern. Über David Lynchs „Mulholland Drive“ heißt es (nicht ganz unpräzise), der Film sei „der böse Zwilling von ‚La La Land‘“. In den Rezensionen zu „Harakiri“, einem japanischen Samuraidrama aus dem Jahr 1962, liest man hingegen ernsthafte Interpretationsversuche, oder – im Topkommentar – wie ein Nutzer damit ringt, dass er solche Klassiker wie diesen Film (schwarz-weiß, nicht auf Englisch) immer vor sich herschiebt, um dann doch davon umgehauen zu werden.

DSGVO Platzhalter

Im Gegensatz zu anderen sozialen Netzwerken hat die Kommentarsektion auf Letterboxd einen guten Ruf. Der Ton hier ist humorvoll bis selbstironisch, oft kenntnisreich und unterscheidet sich meilenweit vom berüchtigten Film-Twitter-Sumpf, wo Castingentscheidungen in großen Franchisefilmen gerne mal mit rassistischen Beleidigungen und Shitstorms quittiert werden. Streit oder Beleidigungen gibt es auf Letterboxd kaum. Wohl auch, weil kaum Kommunikation stattfindet. Endlose Diskussionsstränge, wie es sie auf der sehr ähnlich aufgebauten Literaturplattform Goodreads gibt, muss man auf Letterboxd mit der Lupe suchen. Vor allem zählt die Liste der Filme, die man laut Profil gesehen hat. Wie auf jeder Social-Media-Plattform geht es eben auch um Status und Selbstdarstellung.

Vor allem obskure Arthousefilme sind en vogue

Ein ähnliches Phänomen lässt sich mittlerweile selbst bei Ausstellungen in Museen beobachten, bei denen es jüngeren Besuchern wichtiger ist, dass man ein Tiktok-Video, eine Insta-Story oder ein Selfie postet, um zu zeigen, dass man da war, als dass man wirklich präsent ist. Das Sprechen nach dem Besuch über die Kunst und die Empfindungen beim Erleben treten so in den Hintergrund. Wie der Ausstellungsbesuch zum Social-Media-Statussymbol wird, wird auf Letterboxd zum Aushängeschild, welche Filme man in seinem Profil als „schon gesehen“ markiert oder gar als Favoriten angegeben hat. Wohl deshalb sind auf der Plattform neben offensichtlichen Klassikern vor allem Arthousefilme aus der obskureren Ecke en vogue. Das eben schon erwähnte Samuraidrama „Harakiri“ liegt in der Top-250-Liste der Plattform als bester Film aller Zeiten auf Platz eins, direkt vor Sidney Lumets Klassiker „Die zwölf Geschworenen“ und dem sowjetischen Antikriegsfilm „Komm und sieh“. Blockbuster finden sich in dieser Liste dagegen wenige – und das, obwohl die Nutzer der Plattform erst vergangenes Jahr „Dune: Part Two“ zum besten Film des Jahres gekürt hatten.

Mit Letterboxd wird der Kinobesuch zu einer Art Wettbewerb, bei dem es darum geht, Filme möglichst entweder als Erster gesehen zu haben oder möglichst seltene, seltsame Filme auf seinem Profil zu versammeln. Frei nach dem Motto: Ich will der Cinephilste unter den Cinephilen sein. Deshalb lässt sich wahrscheinlich auch auf Filmfestivals immer häufiger beobachten, dass bei Pressevorführungen und Premieren schon in der ersten Minute des Abspanns die Handys rausgeholt werden, um den eben gesehenen Film auf Letterboxd zu loggen, also als „gesehen“ zu markieren, und zu bewerten. Oder um einfach einen Kommentar zu hinterlassen, dass eine Rezension folgen werde, weil man erst nach der Weltpremiere über den Film schreiben dürfe. Natürlich lässt sich so auch ein Hype generieren. Letterboxd arbeitet an einem Tool, um Filmstudios Zugang zu Nutzerstatistiken zu geben – landet ein Film auf besonders vielen Must-see-Listen oder bekommt auf Festivals besonders viele Logs und Kritiken, könnte das ja ein Hinweis darauf sein, dass man einen Hit an der Hand hat.

Problematisch wird die Sache dann, wenn das eingangs erwähnte Pärchen beim zweiten Date aus dem Kino kommt und sich die beiden Leute danach nicht mehr über ihre unterschiedlichen Deutungen des Films unterhalten, sondern nur noch Bewertungen austauschen. „Wie fandest du den Film?“ – „Gut, 3,5/5“, wie unlängst in einem Leipziger Kino gehört. So droht das Sprechen über Kunst auf einem Niveau zu verharren, das jenem in der alten Sparkassen-Werbung gleicht, als zwei Herren im Restaurant sich mit Statussymbolen zu überbieten suchten: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Nur nun ergänzt um: „Mein obskurer japanischer Lieblingsfilm, meine Bewertung für den neuen Christopher-Nolan-Film, den ich vor allen anderen gesehen habe.“ Es stellt sich die Frage, ob es uns wirklich reicht, zu wissen, welche die Lieblingsfilme unseres Dates oder unserer Stars sind, oder ob wir nicht auch wissen wollen, warum gerade diese Filme sie so berührt haben. Das hat mit Kommunikation zu tun, aber vor allem auch mit Neugier auf das Gegenüber und auf das Kino.