Corona-Teststellenbetreiber Covimedical soll 56 Millionen Euro zurückzahlen

Christoph Neumeier hat Chuzpe. Als einer der größten Corona-Teststellenbetreiber Deutschlands hat er während der Pandemie Dutzende Millionen Euro umgesetzt, er hätte aber gern noch mehr: Im Sommer verklagte er das Land Berlin auf mindestens fünf Millionen Euro Schadenersatz, weil sein Unternehmen bei einer Ausschreibung für 21 Testzentren nicht berücksichtigt wurde. Das Berliner Kammergericht hatte die Vergabe vorher für rechtswidrig erklärt. Dem „Tagesspiegel“ sagt Neumeier im Juli dazu: „Öffentlichkeit und Steuerzahler haben ein Recht auf lückenlose Aufklärung. Hier geht es nicht nur um Geld, sondern um Vertrauen in staatliches Handeln.“

Was das mit Chuzpe zu tun hat? Neumeier wusste zu diesem Zeitpunkt schon seit Monaten, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hessen von seinem Unternehmen Covimedical nach einer Abrechnungsprüfung Geld zurückfordert – und zwar rund 56 Millionen Euro. Es ist die bislang mit weitem Abstand höchste öffentlich belegte Rückforderung einer Kassenärztlichen Vereinigung wegen angeblich falsch abgerechneter Corona-Bürgertests in Deutschland.

Schon jetzt könnte die KV Hessen nach einem Gerichtsbeschluss, der der F.A.Z. exklusiv vorliegt, mehr als 30 Millionen Euro von Covimedical vollstrecken. Wahrscheinlich wird es in den kommenden Jahren in vielen Instanzen um eine grundsätzliche Frage gehen: Hat hier jemand versucht, systematisch den Staat zu täuschen? Oder schlägt der Staat unbarmherzig gegen Unternehmer zurück, die sich in der Krise ein Herz gefasst und versucht haben, unbürokratisch zu helfen?

56.375.289,41 Euro verlangt die KV Hessen zurück

Verliert Neumeier, würde eine beispiellose Erfolgsgeschichte wohl in sich zusammenbrechen: Auch in dieser Zeitung wurde der frühere Partyunternehmer aus dem hessischen Dillenburg 2021 als „Tester der Nation“ gewürdigt. Und es war ja auch beeindruckend: Neumeier hatte Ende 2020 mit Partnern aus dem Nichts die Covimedical GmbH gegründet, die bald darauf bundesweit mehrere Hundert Teststellen betrieb, in denen sie PCR- und Antigen-Schnelltests anbot. Richtig lukrativ wurde das Geschäft, als der Staat von März 2021 an kostenlose Corona-Schnelltests für alle Bürger finanzierte, auch PCR-Tests wurden unter bestimmten Voraussetzungen gezahlt.

Aus dem Beschluss des Verwaltungs­gerichts Gießen von Mai 2025, der der F.A.Z. vorliegt, geht nun hervor, dass die KV Hessen 56.375.289,41 Euro von der Covimedical GmbH zurückverlangt. Es ist das komplette Geld, das das Unternehmen während der Pandemie mit der KV Hessen abgerechnet hat. Die KV wirft Covimedical vor, zwischen März 2021 und Februar 2023 bei der Abrechnung von Tests systematisch gegen die Vorgaben der Corona-Testverordnung verstoßen zu haben.

Moniert wird zum Beispiel, dass sich viele Personen zum Teil täglich Hunderte Kilometer entfernt von ihrem Wohnort testen ließen. Die Anwälte von Covimedical entgegnen laut dem Beschluss, dass zum Beispiel Studenten ihren Hauptwohnsitz oft in ihrem Heimatort belassen, aber am Studienort leben. Auch Berufspendler oder Menschen, die Verwandte besuchen, hätten sich überall testen lassen dürfen. Die KV will außerdem viele Fälle entdeckt haben, in denen dieselbe Person an einem Tag mehrfach getestet wurde – manchmal im Abstand von wenigen Minuten.

Covimedical entgegnet, dass die Regeln keine Begrenzung für die Zahl der Tests pro Tag vorgesehen hätten. Es könne viele Gründe geben, warum sich jemand mehrmals testen ließ – etwa für verschiedene Veranstaltungen, für die Arbeit oder aus Sorge um Angehörige. Bei anderen Tests fehlt der KV der Nachweis, dass das Ergebnis tatsächlich an die getestete Person über­mittelt wurde. Häufig sei die Mail-Adresse einer Mitarbeiterin für Testpersonen genutzt worden. Covimedical entgegnet, dass viele Menschen keine eigene E-Mail-Adresse hätten, die Mitarbeiterin habe die Ergebnisse weitergeleitet.

Entscheidend ist eine grundsätzliche Frage

Die KV will auch Mail-Adressen mit ungewöhnlichen Nutzernamen entdeckt haben, bei verschiedenen Testpersonen hätten Geburtsdaten oder andere Angaben auffällig oft übereingestimmt. Covime­dical entgegnet, dass viele Menschen nichtssagende E-Mail-Adressen nutzen, Überschneidungen bei Geburtsdaten oder Adressen seien bei der großen Zahl an Tests statistisch nicht ungewöhnlich.

Die KV stört sich dann noch daran, dass Tests bei sehr kleinen Kindern abgerechnet worden seien, ohne dass ein Nachweis der Einwilligung der Eltern vorgelegen habe. Diese Einwilligung sei in der Praxis eingeholt worden, entgegnet Covimedical. Zuletzt bemängelt die KV noch, dass PCR-Tests abgerechnet worden seien, obwohl kein positiver Schnelltest vorlag – was nach den Regeln nicht zulässig gewesen sei. Covimedical entgegnet, dass es dafür durchaus Gründe gegeben habe.

Der Staat finanzierte von März 2021 an kostenlose Corona-Schnelltests für alle Bürger.
Der Staat finanzierte von März 2021 an kostenlose Corona-Schnelltests für alle Bürger.dpa

Über all diese Fälle kann man lange diskutieren, entscheidend ist am Ende eine grundsätzliche Frage: Kann die KV das gesamte Geld zurückfordern, weil bei einem Bruchteil der Tests in Stichproben Auffälligkeiten entdeckt wurden? Covimedical weist darauf hin, dass die KV weniger als ein Prozent der über zwei Millionen Da­tensätze beanstandet habe. Ein systematisches fehlerhaftes Abrechnungsverhalten sei so nicht aufgezeigt worden, eine Rückforderung des gesamten Geldes erscheine unverhältnismäßig.

Die KV sieht ein „systematisches Vorgehen“ hingegen belegt. Die gesetzlichen Vorgaben zur Abrechnung und Dokumentation seien klar: Jeder einzelne Test müsse vollständig und korrekt nachgewiesen werden. Wenn die Un­terlagen nicht stimmen oder Zweifel an der Richtigkeit bestehen, sei die gesamte Abrechnung angreifbar. Es sei dann rechtlich möglich und auch geboten, die gesamte Summe zurückzufordern – nicht nur den Anteil der nachweislich fehlerhaften Tests.

„Mutmaßungen und teils widersprüchliche Schlussfolgerungen“

All diese Argumente hat sich das Verwaltungsgericht Gießen laut dem Beschluss angeschaut – und das Ergebnis klingt nicht gut für Covimedical. In dem Eilverfahren ging es erst mal nur darum, ob ein Widerspruch von Covimedical ge­gen den Rückforderungsbescheid der KV eine aufschiebende Wirkung hat, das Geld also bis zur finalen juristischen Klärung nicht gezahlt werden muss. Entschieden hat das Gericht, dass Covimedical mehr als 31 Millionen Euro sofort zahlen muss, nur für etwa 25 Mil­lionen Euro hat es eine aufschiebende Wirkung des Widerspruchs festgestellt.

Zurück­zahlen soll Covimedical demnach das Geld für alle abgerechneten Tests von Juli 2021 bis Fe­bruar 2023, von diesem Zeitpunkt an galt eine neue, speziellere Vorschrift, die genau regelte, wie Rückforderungen ablaufen, wenn bei den Abrechnungen Fehler festgestellt werden. Vor Juli 2021 sei die Rechtslage nicht so klar gewesen, vor allem deswegen muss Covimedical für den früheren Zeitraum erst mal nichts zurückzahlen.

Ansonsten folgte die Kammer den Ausführungen der KV aber „vollumfänglich“, wie es in dem Beschluss heißt. Die Gegenargumente von Covimedical seien „nicht dazu geeignet, die Auffälligkeiten mittels plausibler Erläuterungen zu entkräften“. Sie beschränkten sich auf „Mutmaßungen und teils widersprüchliche Schlussfolgerungen“, die nach den hohen gesetzlichen Anforderungen nicht ausreichten, um den Vorwurf einer mangelhaften Durchführung und Leistungsdokumentation zu widerlegen. Die Beweislast zum Nachweis ei­ner ordnungsgemäßen Durchführung und Dokumentation der Testungen liege bei den Teststellenbetreibern.

Und es sei für den späteren Zeitraum auch gerechtfertigt, alles zurückzufordern: „Ohne eine formal korrekte Abrechnung kann eine Leistungskontrolle nicht stattfinden.“ Ein Verstoß gegen die Abrechnungsbestimmungen könne „den vollständigen Ausfall des Entgelts zur Folge haben“. Wegen der Fehler in der Doku­men­tation stehe nicht abschließend fest, in wel­chem Umfang tatsächlich ordnungs­gemäß getestet wurde, daher bestehe auch kein Anspruch auf einen Teil des Geldes. Stattdessen bestehe ein „erhebliches öffentliches Interesse, die aus Bundeshaushaltsmitteln finanzierte Vergütung der Testleistungen, die (…) zu Unrecht ausgezahlt worden ist, so zeitnah als möglich wieder der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen“.

Beide Seiten haben Widerspruch eingelegt

Die KV und Covimedical haben gegen den Eilbeschluss des Gießener Verwaltungsgerichts Beschwerde eingelegt, in nächster Instanz muss der Hessische Verwaltungsgerichtshof entscheiden. Aktuell laufen noch Fristen zu Stellungnahmen. Aber theoretisch könnte die KV 31 Millionen Euro schon vollstrecken. Aus datenschutzrechtlichen Gründen will sie sich zu dem Fall nicht äußern, man ist sich dort aber nach Information der F.A.Z. sogar sicher, am Ende die gesamten 56 Millionen Euro zu bekommen.

Über den Widerspruch selbst entscheidet die KV, sie weist ihn in solchen Fällen immer zurück. Danach kann Covimedical dagegen klagen – erst dann beginnt die wirkliche juristische Auseinandersetzung. Auf Anfrage wies das Unternehmen die Vorwürfe am Mittwoch noch mal ausdrücklich zurück. Der Beschluss aus Gießen sei nicht rechtskräftig, das eigentliche Verfahren noch nicht abgeschlossen. Alle weiteren Prüfungen von Kassenärztlichen Vereinigungen, von denen es in Deutschland 17 gibt, hätten keinerlei Unregelmäßigkeiten ergeben.

Neumeier ist unterdessen weiter ein um­triebiger Unternehmer, er war oder ist Geschäftsführer von mehr als zehn Firmen, eine davon hat 2023 die Flughafenklinik in München übernommen, heute vertreibt er auch Cannabis auf Rezept. Selbst wenn die KV am Ende recht bekommt: Dass von den 56 Millionen Euro viel übrig ist, ist nicht zu erwarten. Immerhin zahlte Neumeier davon Millionen Tests, Tausende Mitarbeiter, Mieten für Hunderte Stationen. Der Staat war dankbar, dass ihm diese Aufgabe im Pandemie-Chaos abgenommen wurde. Mit der Dankbarkeit ist es zumindest in Hessen vorbei.