
Nach der Operation verlässt die Rentnerin das Krankenhaus. Doch bald hängt sie sprichwörtlich in der Luft. Ihr fehlt jemand, mit dem sie von Angesicht zu Angesicht über ihre Krankheit reden kann. Ihre nächsten Verwandten wohnen weiter weg. Außerdem steht bald das erste Nachsorgegespräch an. Und sie hat das Gefühl, ihr Hausarzt wisse nicht alles, was die Mediziner im Krankenhaus mit ihr gemacht haben und was noch geplant ist. Solche Fälle soll das „Licher Modell“ in Zukunft vermeiden helfen, indem es Lücken in der Zusammenarbeit der örtlichen Klinik mit niedergelassenen Ärzten, Pflegediensten und Patienten nebst Angehörigen schließt. Das Land Hessen unterstützt das Vorhaben mit etwas mehr als einer halben Million Euro. Möglichst noch im laufenden Jahr sollen die ersten Patienten davon profitieren, wie die Sprecherin der Licher Asklepios-Klinik der F.A.Z. sagte.
Den Kern bildet eine digitale Plattform, über die sich dereinst all jene, die mit einem älteren Patienten zu tun haben, informieren und dazu austauschen können. Deren Aufbau hat der Landkreis Gießen gerade ausgeschrieben. In etwa zwei Monaten rechnet der Landkreis mit einem Ergebnis, wie ein Sprecher sagte. Derweil beginnt die Suche nach Frauen und Männern, die sich an dem Pilotprojekt in Mittelhessen beteiligen möchten. Das Angebot gilt für Patienten im Alter von 65 bis 80 Jahren, die nach ihrer Behandlung in der Licher Klinik wieder nach Hause können.
Landrätin gab Anstoß für E-Health-Plattform
Die vor allem durch die Brauerei und das vielfach prämierte Kino Traumstern bekannte Kleinstadt ist aus mehreren Gründen für das Vorhaben ausgesucht worden. Lich liegt im ländlichen Raum, in dem es tendenziell weniger Hausärzte gibt, aber immer mehr ältere Patienten ohne eigenes Auto, die nicht so mobil sind. Überdies können die Menschen auch im Licher Umland nicht auf in kurzen Abständen fahrende Busse zählen, um die Klinik zu erreichen.
Allein in der Kleinstadt mit ihren gut 14.000 Einwohnern leben rund 2500 Männer und Frauen, die älter als 65 Jahre sind – und es werden immer mehr. Nach einer Vorhersage des Statistischen Bundesamts werden in 30 Jahren in Deutschland gut ein Drittel mehr Pflegebedürftige leben als derzeit, wie es im hessischen Digitalministerium heißt, dessen Staatssekretär Stefan Sauer (CDU) der Gießener Landrätin Anita Schneider (SPD) den Förderbescheid für den Aufbau der Plattform übergab.
Lich hat einen Vorzug: Dort kümmern sich Gemeindeschwestern um Hilfsbedürftige. Auch hat der hinter dem Krankenhaus stehende Konzern nicht lange mit der Zusage gezögert, als es um die Mitarbeit in dem Pilotprojekt ging. Es arbeitet mit dem Uniklinikum Gießen und Marburg zusammen, das über die Konzerntochter Rhön-Klinikum AG letztlich ebenfalls zum Asklepios-Konzern gehört.
Angestoßen hat Landrätin Schneider das Vorhaben. „Im Austausch mit Krankenhäusern und Praxen kamen in der Vergangenheit immer wieder die Herausforderungen der Nachsorge in den bestehenden analogen Strukturen zur Sprache“, sagt sie. Über den Austausch mit der Denkfabrik „Brückenköpfe“ sei es gelungen, die Möglichkeit einer digitalen Nachsorge auf den Weg zu bringen. Im ehemaligen Kreiskrankenhaus in Lich fand die Landrätin mit ihrem Anliegen offene Ohren. Dank der Landesförderung könne der Landkreis Gießen die digitale Plattform für die gesamte ambulante Nachsorge beschaffen und die Vernetzung zwischen Krankenhaus, Pflegeheimen, Pflegediensten, Ärzten sowie Ehrenamtlichen technisch ermöglichen. Der Kreis trage selbst ein Zehntel der Kosten.
Das Computerprogramm der Plattform soll mit Patientendaten befüllt werden, welche die Licher Klinik mit Einverständnis der Kranken zur Verfügung stellt. Die Plattform wird automatisiert darstellen, wie es gesundheitlich um den jeweiligen Menschen steht. Zu diesem Zweck können Ärzte und Pflegedienste zum Beispiel die neuesten Messdaten zu Blutzucker und Blutdruck in die Software eingeben. In der Folge könnten sie wechselseitig auf sämtliche gesammelten Angaben zu Pflege und Nachsorge zugreifen und sie jederzeit individuell anpassen, sobald neue Daten vorliegen. Auch die Patienten selbst können ihre Werte eintragen und erhalten Nachricht, ob sie mit einem Arzt reden sollten – im Zweifel auch in einem Video-Gespräch am Rechner. Die gesamte Nachsorge werde zudem von einem sogenannten Care Team aus telemedizinisch tätigen Ärzten und Pflegekräften überwacht.
Ergänzung des bestehenden Gesundheitsnetzwerks
Bisher entwickelten gerade ältere Menschen, die gesund oder auf dem Weg der Besserung aus einem Krankenhaus wieder nach Hause gekommen seien, infolge von Einsamkeit weitere Krankheiten, erklärt Thilo Schwandner, der Ärztliche Direktor der Licher Klinik. Von der Neuerung verspricht er sich klare Vorteile: „Die digitale Nachsorgeplattform ist eine zukunftsweisende Ergänzung des bestehenden Gesundheitsnetzwerks in Lich und bindet alle an der Versorgung älterer Menschen beteiligten Akteure sinnvoll ein.“ Mit der Technischen Hochschule Mittelhessen soll im Verlauf des Pilotprojekts überprüft und bewertet werden, was gut läuft und was verbessert werden muss.
Nun ist erfahrungsgemäß längst nicht jeder betagte Patient mit Computern und Videokonferenzen vertraut. In solchen Fällen sollen die Gemeindeschwestern ins Spiel kommen. Sie könnten den alten Menschen auch am Rechner zur Seite stehen, sagt die Kliniksprecherin.