
Florence Gaub hat gleich zu Beginn drei Botschaften. Erstens hätten die Deutschen schon immer Angst gehabt: „Es hat sich nur geändert, wovor wir uns fürchten.“ Zweitens sei die aktuelle Weltlage zwar schlimm, aber der Eindruck falsch, „dass es gerade so schlimm sei wie nie zuvor“. Und drittens habe es jede Gesellschaft in der Hand, selbst etwas zu tun und sich auf Bedrohungen vorzubereiten. Dieses Gefühl der Eigenwirksamkeit könne sogar glücklich machen, sagt die Leiterin des Forschungszentrums des Defense College der Nato in Rom und verweist auf Finnland. Die 1977 geborene Gaub steht Montagabend bei den Munich Economic Debates von Ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung auf der Bühne.
Der Titel ihres Vortrags „Zukunft ist mehr als das neue Gestern – Neue Rahmenbedingungen für die deutsche Sicherheitspolitik“ deutet an, dass sich die Militärexpertin weniger für Waffensysteme oder den Umbau der Bundeswehr interessiert, sondern für die großen Zusammenhänge. Bei der Nato arbeitet die Deutsch-Französin als Forscherin stets mit einem „Korridor, in dem Zukunft stattfinde“. Viele Rahmenbedingungen seien bekannt und lassen sich auch Deutschlands Sicherheitspolitik im vierten Jahr des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine skizzieren.
Schon vor Trump sagten die US-Amerikaner den Europäern, dass ihr Fokus künftig China sei
Gaub nennt vier sichere Annahmen. Es sei nicht Donald Trump, der die Europäer plötzlich im Stich lasse: Die USA hätten schon 2010 ihren militärischen Fokus in Richtung Asien und China verschoben. Dass die europäischen Nato-Mitglieder lange das 2014 eingegangene Versprechen, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in ihre Armeen zu stecken, ignoriert hätten, sei nicht die Schuld Trumps: „Wir waren schlechte Bündnispartner.“ An der Grundbotschaft der USA an die Europäer, dass Russland „vor allem euer Problem ist“, werde sich nichts ändern.
Eindeutig sei auch der Weg Chinas hin zu einer militärischen Weltmacht. Dies sei Pekings Ambition, dafür baue man mehrere Flugzeugträger und investiere in Satelliten und Raketen. Unstrittig ist für Gaub auch, dass Russland weiter aufrüsten werde. Es gebe langfristige Pläne bis 2050, die Armee trainiere den Einsatz von Soldaten außerhalb Russlands, und in der Produktion von Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern sei das Land enorm gut.
Und Europa? Die Armeen seien eher schlecht ausgerüstet, die Luftabwehr sei auf Angriffe mit Drohnen wenig vorbereitet, und auch für mögliche Konflikte in der Arktis, wo die Interessen von Nato-Staaten mit jenen Russlands kollidieren, gebe es noch keine gute Strategie.
Deutschland brauche Geduld für die Zeitenwende-Reformen der Bundeswehr
Für die künftige Sicherheitsstrategie Deutschlands müsse man auch beachten, was man noch nicht wisse. Auch hier nennt Gaub vier Punkte. Gelingt es Deutschland, die Zeitenwende umzusetzen? Die Expertin fordert Geduld: Zehn Jahre sei in einer Armee extrem schnell für eine Reform. Offen sei zudem, welche Intention Russland verfolge. Sie sei sich nicht sicher, ob Wladimir Putin die Nato zerstören wolle, aber klar sei: „Russland möchte Weltmacht sein.“ Entscheidend für die weitere Entwicklung sei auch, wie lange Russland in der Ukraine gebunden bleibe, denn erst dann könne sich der Kreml anderen Zielen widmen.
Zuletzt äußert sich Gaub skeptisch über konkrete Jahreszahlen wie 2029 oder 2030 als den Zeitpunkt, an dem Russland die Nato angreifen könnte. „Dies soll die Dringlichkeit klarmachen, aber es macht den Leuten auch Angst“, sagt sie.
Dies könne aber kontraproduktiv sein, denn es sei wichtig, dass sich die Bevölkerung mit diesen Themen auseinandersetze: „Wegducken ist falsch.“ Gaub wirbt dafür, in Russland-Expertise zu investieren: „Die Russen verstehen uns besser als wir sie.“ Die jüngsten Provokationen wie die Verletzungen des estnischen Luftraums durch russische Jets spielten mit den Ängsten der Bevölkerung.
In Teilen der deutschen Gesellschaft ist ein Umdenken nötig
Damit die deutsche Gesellschaft wehrfähiger und gelassener werde, muss für Gaub noch eine Frage beantwortet werden: „Was wollen wir mit dem Frieden anfangen, was für ein Deutschland wollen wir 2050 haben?“ Darüber sprechen die Politiker viel zu wenig, dabei würde eine positive Vision helfen, dass sich Bürger engagieren und junge Leute für den Wehrdienst melden.
Mit der neuen Bundesregierung ist Gaub insofern zufrieden, als die deutsche Strategie nun klarer umrissen sei. Dies sei auch wichtig für die Nato: „Wir selbst vergessen oft die eigene Vorbildfunktion. Wenn Deutschland nichts tut, dann verstecken sich Italien oder Belgien hinter uns.“ Dass es weiter nötig sein werde, Russland durch ein starkes Militär abzuschrecken, davon ist Gaub überzeugt. Moskau sei an Dialog leider nicht interessiert. Teile der deutschen Gesellschaft müssen sich also anpassen: „Die Tatsache, dass die Mauer 1989 gefallen ist, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde, das hat sich bei uns in der strategischen DNA festgesetzt.“ Dieses Denken, das macht Gaubs Analyse klar, muss sich ändern.