Das Sprinterleben wird nicht einfacher für den amerikanischen Olympiasieger Noah Lyles. 28 Jahre ist er jetzt alt. Sein Körper wird allmählich müde. Er spürt den Atem der anderen im Nacken. Dieses Jahr hatte er mit einer Sehnenentzündung zu kämpfen, ehe er spät in die Saison einstieg. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Tokio konnte er seinen 100-Meter-Titel nicht verteidigen und wurde Dritter. Jeder neue Sieg ist für ihn wie ein Aufstand gegen die Einsicht, dass seine beste Zeit bald zu Ende sein könnte. Es musste ihn deshalb mit einer tiefen Zufriedenheit erfüllen, dass er im 200-Meter-Finale am Freitagabend im gut gefüllten Nationalstadion der japanischen Hauptstadt wieder vorne war: WM-Gold in 19,52 Sekunden vor seinem Landsmann Kenneth Bednarek (19,58) und Bryan Levell aus Jamaika (19,64). Es war Lyles‘ vierter WM-Titel über 200 Meter. Er sagte, er fühle sich „vom Glück gesegnet“.
Und noch jemand durfte sich freuen: Der australische Teenager und Ozeanien-Rekordhalter Gout Gout, der tags zuvor bei seiner ersten WM-Teilnahme im Halbfinale ausgeschieden war. Noah Lyles, der alte und neue Champion, hatte über ihn gesagt: „Er ist begabter als ich.“

:Der beste Weitsprungwettkampf, den es je gab
Vor 34 Jahren entfachten Mike Powell und Carl Lewis bei den Weltmeisterschaften in Tokio ein Duell, das in der Leichtathletik bis heute nachhallt.
Es ist das Jahr nach den Spielen in Paris, ein neuer Olympiazyklus hat begonnen, und das bringt den einen oder anderen Neuanfang mit sich. Das prominenteste Beispiel in Tokio ist Lyles‘ Landsfrau Sydney McLaughlin-Levrone. In Paris gewann die 26-Jährige noch Olympiagold mit Weltrekord über 400 Meter Hürden. Zur WM kam sie als 400-Meter-Läuferin. Prompt siegte sie über die flache Stadionrunde und unterbot in 47,78 Sekunden fast den 40 Jahre alten Weltrekord der DDR-Sportlerin Marita Koch von 47,60.
Jetzt steht die Frage im Raum, ob dieser Sieg erst der Anfang eines größeren Projekts für die Spiele 2028 in Los Angeles gewesen sein könnte: Will Sydney McLauglin-Levrone dort Gold über 400 Meter und 400 Meter Hürden gewinnen? Ein Einzel-Doppelstart in zwei derart zehrenden Disziplinen ist ziemlich einzigartig. Aber die Idee passt zu ihrem Coach Bob Kersee, der mit seinen Mitteln gerne das Besondere aus seinen Athletinnen herausholt. Sydney Laughlin-Levrone selbst sagte zu der Doppelstart-Vision: „Kein Kommentar.“
Andere Neuanfänge waren nicht zu übersehen: Junge Podeststürmer sind in Tokio ins Rampenlicht getreten. Der Italiener Mattia Furlani, 20, zum Beispiel als Sieger im Weitsprung. Oder Jamaikas 100-Meter-Sprinterin Tina Clayton, 21, die zu Silber stürmte und damit die jüngste Medaillengewinnerin in der WM-Geschichte des Kurzsprints wurde.

Aber wer wirklich in die Zukunft der Leichtathletik schauen will, muss die Vor- und Zwischenkämpfe beachten. Dort findet man die Talente, die eines Tages den Ton in ihren Disziplinen angeben könnten. Auch Sydney McLaughlin-Levrone ist dort einst zu sehen gewesen – als 17-jährige Halbfinalistin über 400 Meter Hürden bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio.
In Tokio fiel Cooper Lutkenhaus aus Texas auf. Lutkenhaus ist 16, Oberschüler an der Northwest Highschool in Justin und der jüngste WM-Teilnehmer in der Geschichte des US-Leichtathletik-Verbandes. Er hatte sich den Startplatz mit Platz zwei bei den US-Trials in Eugene verdient. Seine Zeit dort: 1:42,27 Minuten, U18-Weltrekord. Prompt nahm ihn ein amerikanischer Sportartikelhersteller unter Vertrag. An seiner Highschool bekam er für die WM schulfrei und eine Abschiedszeremonie mit Cheerleaderinnen und Marschmusik. In Tokio kam er dann nicht an den lauftaktisch versierten Erwachsenen vorbei. 1:47,68, Aus im Vorlauf. Cooper Lutkenhaus sagte: „Ich glaube, ich kann davon viel lernen.“
Auch Japan hat ein 16-Jährigen im Team: Sorato Shimizu wurde im Juli bei einem Oberschulwettkampf in Hiroshima mit 10,00 Sekunden über 100 Meter gestoppt, auch das war ein U18-Weltrekord. Er steht im Team für den Staffelwettkampf an diesem Wochenende. China bot im Hammerwerfen die 18-Jährige Jiale Zhang auf, die dieses Jahr den U20-Weltrekord auf 77,24 Meter verbessert hat; sie erlebte in Tokio einen lehrreichen WM-Vorkampf, in dem sie ihren Rekord nicht bestätigen konnte: 72,02.
Die Erwartungen an Gout Gout sind hoch. Zu hoch?
Und dann war da eben Gout Gout, das schlaksige, etwas zappelige Sprint-Wunderkind aus Ipswich in Queensland, der Sohn eines südsudanesischen Flüchtlingspaares. Gout ist erst 17 und trotzdem schon im Blickpunkt der Medien. In Australien entfacht er die Vorfreude auf Siege und Rekorde, erst recht mit Blick auf Olympia 2032 in Brisbane. Gout Gout ist eben jung und so schnell, dass Beobachter Parallelen zur frühen Karriere des jamaikanischen Weltrekordlers Usain Bolt sehen, inklusive Bolt selbst. 20,04 lief Gout Gout im Dezember 2024 bei den australischen Schulmeisterschaften. Damit brach er Bolts U18-Weltrekord und den Ozeanienrekord, der 56 Jahre gestanden hatte. Danach sagte Usain Bolt: „Er zeigt das gleiche Talent wie ich, als ich jung war.“ Die Erwartungen sind hoch. Zu hoch?
Gout Gout ist sicher kein leichter Fall für Diana Sheppard, seine graugelockte Trainerin an der Ipswich Grammar School. Sie muss zusehen, dass die frühen Erfolge ihm nicht den Kopf verdrehen und dass er sein Talent nachhaltig weiterentwickelt. Aber möglicherweise ist Diana Sheppard genau die Richtige für die Aufgabe. Sie ist bekannt für ihre direkte Art. Von ihren Athleten verlangt sie Eigenverantwortung. „Ich sage ihnen gleich: Das ist eure Reise, und ich bin hier, um euch zu begleiten, nicht um Händchen zu halten“, sagt sie auf der Website des australischen Leichtathetik-Verbandes.
Ihre Lehre scheint bislang zu funktionieren. Gout Gout hat seine 200-Meter-Bestzeit dieses Jahr auf 20,02 Sekunden verbessert, und bei der WM erwies er sich als aufgeräumter Charakter. Sein Halbfinale beendete er als Vierter in 20,36 Sekunden. Anschließend trat er furchtlos vor die Reporter und erzählte zufrieden von seinen Erkenntnissen. „Ich kann tatsächlich da rausgehen, mich voll verausgaben und mich gegen diese erwachsenen Männer behaupten“, sagte er. „Und mein Vorteil gegenüber ihnen ist, dass ich Zeit habe.“
Noah Lyles sieht den unbekümmerten Gout. Vielleicht beneidet er ihn sogar ein bisschen um seine Jugend, um dieses Gefühl, dass jetzt alles erst so richtig anfängt. Und er ahnt wohl, dass Gout Gout ihn schon bald überholen könnte. „Er ist ein toller Jugendlicher“, hat Noah Lyles in Tokio über ihn gesagt, „er hat einen tollen Kopf zwischen den Schultern.“
