
Kalkulierte Ausbrüche gibt es im Profifußball häufiger. Man muss sie nicht überbewerten. Sie sind meist ein Weckruf, eine über die Öffentlichkeit ausgetragene Kritik an den herrschenden Verhältnissen, vom Zeitpunkt her wohl gewählt, formuliert von einem, der es sich leisten kann – Stichwort: Führungsspieler.
Andrich schob hinterher: „Wir haben zu viele Leute, die sich mit anderen Sachen und nur mit sich beschäftigen. So sah das Spiel auch aus. Jeder hat für sich gespielt, jeder ist auf dem Platz für sich allein herumgelaufen. Das 3:3 hat nichts mit irgendwelchen Unruhen oder mit Spielerwechseln zu tun, sondern einfach mit der Mannschaft auf dem Platz. Wenn du nicht als Team spielst, wenn du Riesenräume zulässt, dann kannst du nicht verteidigen. Respekt vor Werder, sie haben alles reingehauen. Aber wir dürfen dieses Spiel niemals hergeben.“
„Das sind Kleinigkeiten, die einen Gegner aufbauen“
Gemeint war der späte Ausgleich. Leverkusen spielte eine halbe Stunde gegen zehn Bremer, Niklas Stark hatte die Gelb-Rote Karte gesehen. Nach dem 3:1 durch Patrik Schicks Elfmeter in der 64. Minute wähnte sich mancher Bayer-Profi offenbar im Bus auf der Rückfahrt. Werders letztes Aufgebot merkte, dass etwas möglich war, wie der eingetauschte Leo Bittencourt hinterher erzählte. Erst schafften sie durch Isaac Schmidt das 3:2 (76.), dann glückte dem 18 Jahre alten Karim Coulibaly der Ausgleich in der sechsten Minute der Nachspielzeit. Das Weserstadion bebte.
So wie Andrich später. Der 30 Jahre alte Mittelfeldspieler ist einer der Verbliebenen der Alonso-Jahre. Unter dem Spanier hatte er zuletzt eine kleine Rolle gespielt. Nun räumt er wieder auf im Mittelfeld. Und entscheidet. Wie beim Elfmeter, als sich vier Bayer-Profis um die Ausführung stritten: „Das war auch ein Zeichen an den Gegner. Der sieht: Die führen 2:1, können das 3:1 machen und diskutieren erst mal über einen Elfmeter. Das sind Kleinigkeiten, die einen Gegner aufbauen. Wir können da nicht zwei Minuten herumstehen und Schnick-Schnack-Schnuck spielen, wer schießt. Ich bin dann hingegangen und habe entschieden, dass Patrik schießt“, sagte Andrich.
Danach strudelte Bayer 04 mit lauter Wechseln, wenig Energie und viel Chaos in 30 Minuten, die staunen ließen. Die Ordnung ging verloren, das Schiff bekam so sichtbar Schlagseite, dass Trainer Erik ten Hags Direktiven von außen wie hilflose Rufe eines Ertrinkenden wirkten.
Auch Andrich kritisiert den Trainer
Andrich hatte den neuen Coach zwischen den Zeilen schon unter der Woche angezählt. Zudem berichtete der „Kicker“, dass seine Spielvorbereitung und Ansprachen in der Kritik stünden – Alonsos Königsdisziplinen. Wobei im direkten Vergleich mit dem kulthaft verehrten Spanier jeder Coach in Leverkusen schlecht wegkommen dürfte.
Trotzdem ist der Druck auf den 55 Jahre alten Niederländer nach nur drei Pflichtspielen spürbar. Weil Anführer wie Andrich ihn schwächen, wenn er auf die Frage antwortet, ob seine Kollegen vom Trainer ausreichend klar informiert ins Rennen geschickt würden: „Es ist eine Mischung aus nicht wissen und nicht können.“ Von der Klubführung wurde der Trainer am Sonntag nicht öffentlich gestärkt.

Nun hat ten Hag ein Team übernommen, das bei rund zwei Dutzend Ab- und Zugängen bis aufs Fundament renoviert worden ist – und bis zum Schließen des Transferfensters weitere Auffrischung bekommen könnte. Ten Hag griff am Samstag schon ungewohnt früh nach manchem Strohhalm, stellte sich weniger vor die Mannschaft, als dass er den Zank um den Strafstoß monierte und das nachlässige Ausspielen der Überzahl: „Bei uns gibt es einen großen Umbruch. Wir brauche eine neue Hierarchie. Dienstag wissen wir, wer alles kommt.“ Dann wird ten Hag verstärkt gegen interne Zweifel anarbeiten müssen. Unter etwas besseren Bedingungen.
Sein Kollege Horst Steffen brachte es nach seinem Bundesliga-Heimdebüt auf den Punkt: „Wenn das Transferfenster geschlossen ist, sorgt das für Erleichterung bei jedem Einzelnen. Dann steht die Gruppe.“ Das gilt für alle Seiten in diesen wilden Wechseltagen, die Spuren hinterlassen. Steffen verschwieg nicht, dass Karim Coulibaly ohne einen Haufen Verletzter sehr viel länger auf sein erstes Bundesligaspiel hätte warten müssen. Ins kalte Wasser geworfen, erlebte der Innenverteidiger eine heißkalte Dusche. Er verschuldete das 0:1, als Nathan Tella seinen Querpass aufspürte und Schicks Tor präparierte. Danach wackelte der 191 Zentimeter lange Schlaks einige Male – ehe er in der 96. Minute zum glücklichsten Menschen des Nachmittags wurde.