
Ein Forschungsteam des Robert-Koch-Instituts hat bei Abwasseruntersuchungen Impf-Polioviren in Mainz und anderen deutschen Großstädten entdeckt. Es handele sich um abgeschwächte Polioviren, die von der Schluckimpfung gegen Polio – auch bekannt als Kinderlähmung – stammten. Die Impfstoffvariante wird in Deutschland seit 1998 nicht mehr eingesetzt. Daher vermutet das Robert-Koch-Institut, dass die Viren durch Reisende aus Ländern, in denen die Impfung noch verabreicht wird, eingeschleppt worden sind. Die Gefahr einer Ansteckung sei aufgrund der hohen Impfquote und der guten Hygienebedingungen in Deutschland allerdings gering, so ein Sprecher des Hessischen Landesamts für Gesundheit und Pflege.
Ein Nachteil des früher auch in Deutschland verwendeten Impfstoffs habe darin bestanden, dass nach der Einnahme des Vakzins die abgeschwächten Impf-Polioviren im Stuhl ausgeschieden würden. Durch Berührung von kontaminierten Gegenständen oder Personen könnten die Erreger verbreitet werden und Mutationen im Körper ungeimpfter Menschen zu Erkrankungen führen, so ein Sprecher des Landesamts. Daher werde in Deutschland seit 1998 ein inaktivierter Impfstoff, der im Gegensatz zur Lebendimpfung abgetötete Viren enthalte, mit einer Spritze verabreicht. Ungeimpfte Personen sowie nicht ausreichend immunisierte Menschen seien gefährdet, so ein Sprecher des Landesamts.
Impf-Polioviren in neun Großstädten nachgewiesen
Poliomyelitis ist eine hochansteckende Viruserkrankung, die von Polioviren ausgelöst wird. Eine Infektion mit den Erregern verlaufe zwar meist ohne Beschwerden, könne aber zu Kopfschmerzen, Fieber, Lähmungen und sogar zum Tod führen, schreibt das Robert-Koch-Institut auf seiner Website. In den Fünfzigerjahren hätten vor allem Kinder nach Infektionen mit Polio Lähmungen bekommen, weshalb die Krankheit auch heute noch als Kinderlähmung bekannt sei. Die Einführung des Lebendimpfstoffs OPV habe Polio stark zurückgedrängt: So berichtete die F.A.Z. am 18. September 1963 vom „Rückgang der Poliomyelitis“.
Die fortgeführte Immunisierung der Bevölkerung führte in den Folgejahren dazu, dass 1992 der letzte Polio-Fall in Deutschland bekannt geworden sei, so ein Sprecher des Hessischen Landesamts. Die Abwasserproben in zehn deutschen Großstädten – darunter Mainz und Frankfurt – seien laut einem Sprecher des Landesamts ein Frühwarnsystem, um rechtzeitig Vorkehrungen gegen die Ausbreitung von Viren zu ergreifen. In den vergangenen acht Monaten hätten die Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts in allen Städten außer Frankfurt Impf-Polioviren nachgewiesen.
Es handele sich bei den Untersuchungen um Momentaufnahmen, sagt die Virologin Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Daher bestehe die Möglichkeit, dass Menschen in Frankfurt zwar infiziert seien, aber die Viruslast nicht hoch genug sei, um „sie im Abwasser nachweisen zu können“, so Ciesek. Das vermehrte Aufkommen der Erreger in ganz Deutschland sei ein Hinweis darauf, dass die Viren mittlerweile nicht nur von Reisenden ausgeschieden, sondern „von Mensch zu Mensch“ übertragen würden.
Woher die Viren genau stammten und wie viele Menschen in Deutschland infiziert seien, ist nach Angaben des Landesamtes nicht zu klären. Das Risiko einer Erkrankung durch die Viren bleibe insgesamt gering, trotzdem raten Ciesek und der Sprecher des Hessischen Landesamts für Gesundheit und Pflege, den Impfstatus zu überprüfen und gegebenenfalls die Impfung auffrischen zu lassen.