
Wenn Mats Grambusch in diesen Tagen morgens aufwacht, dann blickt er im fünften Stock des Düsseldorfer Hyatt-Hotels aus raumhohen Fenstern über die sonnige Tiefebene des Niederrheins. Bis nach Mönchengladbach kann man zwar nicht schauen, aber zum Sinnieren lädt der idyllische Panoramablick über die Rheinaue trotzdem ein. Der 32-Jährige spielt in dieser Woche bei der Europameisterschaft in seiner Heimatstadt Mönchengladbach sein letztes Turnier. Er beendet seine Karriere in der Nationalmannschaft. „Noch spüre ich gar keine allzu große Wehmut“, sagt er, „und das finde ich selbst fast seltsam“. Letztlich erklärt er sich das damit, dass er mit seinen Gedanken noch komplett beim Sport ist. Die Wehmut muss warten.
Der 218-malige Hockey-Nationalspieler will die deutsche Nationalmannschaft in dieser Woche zum Titel führen. Hätte die EM in Spanien, Belgien oder sonst wo stattgefunden, dann hätte Grambusch nicht noch mal mitgespielt, sondern seine Karriere in der Nationalmannschaft bereits nach dem Gewinn der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris beendet. Dann aber wurde klar, dass es für diese EM keinen anderen Bewerber als den Deutschen Hockey-Bund gibt und dass das Turnier nach 2023 zum zweiten Mal nacheinander in Mönchengladbach ausgetragen wird. Und so hat Grambusch entschieden, dass dies ein idealer Anlass ist, hier seine internationale Laufbahn zu beenden. Dieses Turnier ist also geradezu wie geschaffen für ihn und seinen Abschied. „Ausnahmsweise“, witzelt er, „hatte ich bei der Vergabe dieser EM nach Mönchengladbach aber nicht meine Finger im Spiel“.

:Frau Doktor steht vor dem Absprung
Seit zwölf Jahren spielt Selin Oruz für das deutsche Hockey-Nationalteam. In dieser Zeit ist sie Ärztin geworden. Mit 28 naht nun ihr internationales Karriereende – als Folge der täglichen Doppelbelastung.
In der Nationalmannschaft freilich ist er als Kapitän und erfahrenster Spieler umso mehr der Gestalter. 2011 bestritt Grambusch mit 18 Jahren sein erstes A-Länderspiel, 2013 gewann er mit der deutschen Mannschaft deren bis heute letzten Europameistertitel in Belgien. Es war sein erster großer internationaler Erfolg, weshalb er verständlicherweise der Ansicht ist, dass sich jetzt mit dem erneuten Gewinn des kontinentalen Turniers zum Abschluss seiner Nationalmannschaftskarriere auf wunderbarste Weise ein Kreis schließen würde.
Die Perspektiven sind nach Abschluss der Vorrunde gut. „Wir sind auf einem sehr guten spielerischen Level“, sagt Grambusch. Mit einem 3:2 gegen Frankreich, einem 1:1 gegen England und einem 10:0 gegen Polen ist das deutsche Team ins Halbfinale eingezogen, in dem es an diesem Donnerstag (20 Uhr, kostenlos bei magentasport.de) auf Spanien trifft. „Jeder kann jeden schlagen“, sagt Grambusch über die Rollenverteilung in der Weltspitze. Die Niederlande sind derzeit Weltranglistenerster, Deutschland Zweiter, Spanien Vierter. „Da wird die Tagesform entscheiden“, vermutet Grambusch, „das werden Spiele auf Messers Schneide.“
Sollte es nicht für Gold reichen, sollte der Traumabschied nicht Wirklichkeit werden, dann könnte Grambusch das verkraften. Er hat eine Traumkarriere hinter sich: 2013 gewann er EM-Gold, 2016 Olympia-Bronze, 2023 wurde er Weltmeister und sicherte 2024 Olympia-Silber. Den WM-Titel empfindet er nominell als größten Erfolg seiner Karriere, aber die beiden Olympiamedaillen stehen dem emotional in nichts nach. Überhaupt fühle er sich erfüllt durch seine Hockeykarriere. „Ich habe jedes bedeutende Spiel, das es im Hockey gibt, mitgemacht.“ Er empfinde seine Laufbahn als „großartig“ und sei „wahnsinnig dankbar dafür“.
Der vergebene Penalty 2023 verbittert ihn nicht mehr
Deshalb, und weil er am Wochenende vielleicht die Chance zur dramatischen Wiedergutmachung erhält, wirkt Grambusch nicht mehr verbittert darüber, dass er seiner Nationalmannschaft bei der EM 2023 vor eigenem Publikum durch einen vergebenen Penalty gegen England nicht den Einzug ins Finale schenken konnte. Das Team verlor damals das Halbfinale unglücklich im Shootout und verpasste im Spiel um Platz drei überdies die Bronzemedaille durch eine 0:2-Niederlage gegen Belgien. Sollte es nun im Halbfinale an diesem Donnerstag oder in einem der beiden Medaillenspiele am Samstag wieder einen Penalty in einem Shootout zu schießen geben, dann stünde Grambusch bereit. „Ich wäre wieder ein Kandidat“, sagt er entschlossen.
Und so wird sich am Samstag entscheiden, ob er mit Edelmetall seine Karriere im Nationalteam beendet. Mit seinem Heimatverein, dem Gladbacher HTC, zu dem er vor einem Jahr aus Köln zurückgekehrt war, ist Grambusch gerade aus der zweiten Liga in die Bundesliga aufgestiegen, und er spielt dort auch mindestens die kommende Saison noch weiter. Beruflich leitet er mit seinem ebenfalls im Nationalteam spielenden Bruder Tom eine eigene Immobilienfirma in Mönchengladbach. Durch den künftigen Verzicht auf die bis zu 120 Nationalmannschaftstage pro Jahr will er dann auch mehr Zeit für seine Frau und seine zweijährige Tochter haben.
Denn auch wenn Hockey ein riesiger, emotionaler Teil seines bisherigen Lebens war und Mats Grambusch einer der bedeutendsten Spieler in der Historie des deutschen Hockeysports, sagt er: „Seiner Tochter in die Augen zu schauen, ist das Allerschönste überhaupt.“