
Die Zahl mutmaßlich gefälschter Fachartikel steigt laut einer kürzlich veröffentlichten Studie in der Fachzeitschrift PNAS in einem bedrohlichen Tempo. Demnach verdoppelt sich die Anzahl problematischer Studien etwa alle anderthalb Jahre, die Menge aller erfassten wissenschaftlichen Veröffentlichungen verdoppelte sich hingegen über einen Zeitraum von 15 Jahren. Demnach steige der Anteil problematischer Fachartikel, heißt es in dem neuen Aufsatz. Die Autoren um den Professor für Ingenieurswissenschaften und Angewandte Mathematik Luís A. Nunes Amaral von der Northwestern University sehen systematischen Betrug als Ursache für diese Entwicklung. Dahinter stünden „im Wesentlichen kriminelle Organisationen“, wird Amaral in einer Pressemitteilung der Universität zitiert.
Das Team rund um Amaral analysierte Studien in großen Wissenschaftsdatenbanken wie „Scopus“ und „PubMed“ sowie Daten der Kontrollplattform „Retraction Watch“, die dokumentiert, welche Fachartikel nach der Veröffentlichung wieder zurückgezogen werden. Die Gruppe suchte nach digitalen Spuren, die auf systematische Unstimmigkeiten hindeuten. Eines der wichtigsten Indizien dabei waren sogenannte „Retractions“. So wird es genannt, wenn eine bereits veröffentlichte Studie offiziell zurückgezogen wird – etwa weil ihre Ergebnisse fragwürdig sind. Die Gründe reichen von unbeabsichtigten Fehlern, etwa bei der statistischen Auswertung oder in den Abbildungen, bis hin zu bewusstem wissenschaftlichem Fehlverhalten wie Datenfälschungen oder Plagiaten.
Während eine einzelne „Retraction“ ein Versehen sein kann, deute eine Häufung von Fällen rund um einzelne Personen oder Journale auf ein systematisches Problem hin, folgern die Autoren für den untersuchten Datensatz. Werden etwa Dutzende Artikel auf einmal zurückgezogen, werten sie dies als Indiz für organisierten Betrug.
Spurensuche im Daten-Dschungel
Im Fokus der Studie steht das bekannte Open-Access-Journal PLoS One. Das Journal arbeitet nicht mit einer kleinen, festen Redaktion, sondern stützt sich auf ein großes Netzwerk von ehrenamtlichen Editoren – insgesamt mehr als 18 000 seit der Gründung. Diese externen Wissenschaftler sind dafür zuständig, eingereichte Manuskripte zu prüfen und den Begutachtungsprozess, das Peer-Review-Verfahren, zu organisieren.
Innerhalb dieses riesigen Pools an Gutachtern sei laut den Studienautoren eine kleine Gruppe von nur 45 Editoren für fast ein Drittel aller zurückgezogenen Artikel verantwortlich. Diese 45 Personen betreuten zwar nur 1,3 Prozent aller Veröffentlichungen, aber die von ihnen begutachteten und akzeptierten Artikel machten laut Amarals Studie über 30 Prozent der insgesamt 702 „Retractions“ aus, die das Journal bis Anfang 2024 aussprach.
PLoS erklärte auf Anfrage der SZ, man habe bereits vor Veröffentlichung der PNAS-Studie Fälle von problematischem Verhalten einzelner Herausgeber entdeckt – darunter auch einige der im Artikel untersuchten Personen. „In allen Fällen haben wir die betreffenden Personen umgehend aus den PLoS-Redaktionsgremien entfernt und bei den betroffenen Artikeln die notwendigen Maßnahmen ergriffen“, erklärt Renee Hoch, Leiterin für Publikationsethik, in einer Stellungnahme. Die Aufdeckung dieser Probleme habe zu einer Reihe von „Retractions“ geführt, die später in der PNAS-Studie ausgewertet wurden.
Nach Angaben des Verlags habe die Zahl der Verstößen gegen die Integrität des Peer-Review-Verfahrens seit 2021 branchenweit deutlich zugenommen. PLoS habe darauf mit verstärkten Kontrollmechanismen reagiert – darunter der Einsatz von KI-gestützten und manuellen Prüfungen, strengere Richtlinien zur Erkennung von Manipulationen und ein verschärftes Verfahren zur Auswahl neuer Editoren. Zudem wurden 2023 eine eigene „Manipulation of the Publication Process“-Richtlinie eingeführt und die Regeln für den Umgang mit Interessenkonflikten präzisiert. Dennoch sei es, so Hoch, auch mit umfassenden Prüfungen kaum möglich, derartige Verstöße vollständig zu verhindern, da Peer-Review auf dem freiwilligen Engagement von Herausgebern und Gutachtern beruhe.
Die Anatomie des Betrugs
Nach Einschätzung von Amaral und seinen Kollegen agiert ein komplexes Netzwerk im Hintergrund einer Vielzahl der gefundenen problematischen Fachartikel. Im Zentrum stehen demnach sogenannte „Paper Mills“ die massenhaft Manuskripte von geringer Qualität produzieren – oft mit erfundenen Daten, manipulierten Abbildungen und plagiierten Passagen. „Man kann nicht nur Artikel kaufen, sondern auch Zitationen“, wird Amaral in der Pressemitteilung zitiert. „So können Sie den Anschein erwecken, angesehene Wissenschaftler zu sein, obwohl Sie kaum eigene Forschung betrieben haben.“
Um diese Artikel an die zahlende Kundschaft zu bringen, fungieren „Makler“ als Vermittler im Hintergrund. „Makler verbinden die verschiedenen Akteure“, so Amaral. „Sie finden jemanden, der den Artikel schreibt, Leute, die bereit sind, für die Autorenschaft zu bezahlen, und ein Journal, in dem alles veröffentlicht werden kann.“
Auf einen solchen Vermittler stieß die Gruppe um Amaral, als sie archivierte Webseiten der in Chennai, Indien, ansässigen Academic Research and Development Association (ARDA) aus dem Jahr 2020 untersuchte. Die Organisation, die sich als Beratungsfirma für Forschende präsentiert, bietet unter anderem Lektorat, Formatierung, Plagiatsprüfung und Schulungen an – und listete damals zahlreiche Zeitschriften, in denen eine Veröffentlichung „garantiert“ wurde. Amarals Team prüfte alle diese Titel und stellte fest: über 30 Prozent wurden später aus der Wissenschaftsdatenbank Scopus gestrichen – ein drastischer Schritt, der in der Regel nur bei gravierenden Qualitätsmängeln erfolgt. Scoupus hatte 2020 lediglich 0,5 Prozent aller dort indizierten Journale aus der Datenbank entfernt. Laut Amaral und seinen Kollegen ersetzte ARDA die entsprechenden Zeitschriften mit noch gelisteten und teils „gekaperten“ Journalen, um weiterhin eine Veröffentlichung garantieren zu können.
Das indische Portal Science Chronicle berichtete zudem von einem Kontakt, bei dem ARDA eine schnelle Veröffentlichung ohne Peer-Review sowie den Kauf von Autorenschaften angeboten haben soll. ARDA wies die Vorwürfe auf SZ-Anfrage zurück. Man verweise in „gutem Glauben“ auf mögliche Zieljournale, habe aber keinen Einfluss auf deren redaktionelle Entscheidungen. Bei Auffälligkeiten entferne man entsprechende Titel umgehend. Autorenschaften würden nicht verkauft, betonte die Organisation.
Ein Weckruf für die Wissenschaft
Doch was treibt Forschende sich einen Platz für ihren Namen auf mutmaßlich gefälschten Fachartikeln zu kaufen? Die Studie nennt als zentrale Ursache den intensiven Wettbewerb um Fördergelder und Karrieren. Die Gruppe um Amaral beschreibt, wie wissenschaftlicher Erfolg zunehmend an Kennzahlen gemessen wird – etwa der Zahl an Publikationen in renommierten Fachzeitschriften. Dieser Druck, so die Autoren, schaffe Anreize für unethisches Verhalten: „Der Wettbewerb um begrenzte Finanzmittel und Arbeitsplätze zwingt Wissenschaftler und die Organisationen, die sie beschäftigen, dazu, kontinuierlich nach mehr Größe, Effizienz, Wirkung und Wachstum der Kennzahlen zu streben.“
Amaral nennt das Projekt „wahrscheinlich das deprimierendste“, an dem er je mitgearbeitet habe. Die Folgen seien dramatisch: „Wenn wir kein Bewusstsein für dieses Problem schaffen, werden sich immer schlimmere Verhaltensweisen normalisieren. Irgendwann wird es zu spät sein, und die wissenschaftliche Literatur wird vollständig vergiftet sein.“
Die Autoren fordern deshalb umfassende Reformen: bessere Kontrollmechanismen, unabhängig vom Einfluss wissenschaftlicher Verlage oder Universitäten, sowie technologische Werkzeuge zur Betrugsaufdeckung. Vor allem aber brauche es eine „radikale Umstrukturierung des Anreizsystems“, das Quantität über Qualität stelle.