
Sie ziehen wieder durch die Straßen, die Niederländerinnen und Niederländer. Das inzwischen bestens bekannte „Links rechts“ der Band Snollebollekes, es ist einmal mehr Soundtrack eines sommerlichen Fußballturniers, und egal, was man davon musikalisch halten mag: Die Fanmärsche, bei Männern wie bei Frauen, bringen eine sehr eigene, orange Fankultur zu den Turnieren. Nun auch in kleine, friedliche Schweizer Städte wie Luzern. In einen Auftaktsieg für die Niederlande mündeten die Feierlichkeiten dort, ein ungefährdetes 3:0 gegen Wales. Das allerdings nicht überdecken konnte, dass hinter all dem lauten Gesinge und Geschunkel einiges im Argen liegt bei den Niederlanden – so laut kann Snollebollekes gar nicht singen.
Seit Monaten schwelt eine Debatte bei der Frauen-Nationalmannschaft, die im Januar vom niederländischen Verband angestoßen wurde, mit einer diskutablen Entscheidung. Zum Jahresstart nämlich entschied der KNVB, Andries Jonker zu einer lame duck zu machen, zu einem Trainer ohne Zukunft: Seit nun sechs Monaten ist bekannt, dass Jonker nach der EM aufhören muss, sein Vertrag wird nicht verlängert, unabhängig vom Resultat. Dass es kein leiser Abschied werden wird, stand bereits vor dem Auftaktspiel fest.

:„Ich muss die Frauen nicht aufwecken, die sind schon wach“
Vor dem WM-Viertelfinale gegen Spanien spricht Andries Jonker, Trainer der Niederländerinnen, über seine Erfahrungen mit beiden Geschlechtern, das sportliche Niveau bei der WM – und über die spezielle Verbindung mit Louis van Gaal.
In einem Podcast des niederländischen Rundfunks NOS sprach der 62-Jährige vor dem EM-Start über das zurückliegende, schwierige halbe Jahr. Er sei „überrascht“ und „enttäuscht“ gewesen von der Entscheidung des KNVB und habe über einen Rücktritt vor dem Turnier nachgedacht, sagte Jonker offen. Bis in die Vorbereitung hätten diese Zweifel bestanden: „Wollen diese Mädchen es noch mit diesem Team machen? Das ist mir wichtig. Das ist der Schlüssel.“ Er berichtete davon, dass er dem Team und allen Mitarbeitern in der Vorbereitung dann ein leeres Oranje-Trikot hingelegt hatte, mit der Bitte, es zu unterschreiben, wenn man bereit sei, weiterhin alles füreinander zu geben. Es unterschrieben alle – und doch kehrte keine Ruhe ein.
Zu einer Art Tribunal wurde die Pressekonferenz der Niederländerinnen vor dem Wales-Spiel. Jonker wurde von den anwesenden Journalisten in einem teils mutwillig frechen Ton ausgefragt, lange Zeit konterte er noch mit einer gewissen Sachlichkeit – dann lief das Fass über. Als ein Journalist sagte, das Verhalten zwischen Verband und Trainer erinnere ihn an ein „Puppentheater“, entgegnete Jonker entschieden: „Wenn ihr das für ein Puppentheater haltet, dann habt ihr natürlich ein Recht auf eure Meinung. Aber damit beleidigt ihr die Spielerinnen.“
Auf einer Pressekonferenz der Niederlande wird der Ton zum Turnierstart hart
Davon abgesehen, dass der Begriff „Puppentheater“ gerade im Frauenfußball höchst fragwürdig ist, musste man es als Leistung ansehen, Jonker überhaupt an diesen Punkt zu bringen. Der Niederländer hat in seiner Karriere als Assistent von Louis van Gaal beim FC Barcelona und beim FC Bayern sowie unter anderem als Cheftrainer des VfL Wolfsburg seine Erfahrungen mit schwierigen Pressekonferenzen gesammelt. Eine gewisse Ruhe wohnt ihm daher grundsätzlich inne. Vor allem aber eine tiefe Verbundenheit zum Frauenfußball, die er seit seinem Amtsantritt 2022 entwickelt hat und über die er mit der SZ bereits bei der WM 2023 sprach.
„Ich muss die Frauen nicht aufwecken, die sind schon wach“, sagte Jonker damals. Er genoss die Arbeit mit den Frauen, gerade weil er sich nicht demselben absurden Medien- und Egomanie-Stress ausgesetzt sah wie noch als Trainer im Männerbereich. Und er war erfolgreich: Nach dem desaströsen Auftritt bei der EM 2022 war es Jonker, der das Nationalteam der Niederlande neu erfand und in ein WM-Viertelfinale führte, in dem es Spanien erst in der Verlängerung unglücklich unterlegen war. Die wechselhaften sportlichen Ergebnisse des vergangenen Jahres allein mit ihm zu verbinden und nicht etwa mit den Verletzungen zahlreicher Leistungsträgerinnen, wirkt daher etwas undankbar. Und sicherlich nicht Erfolg fördernd.
Mit einer derart desaströsen Öffentlichkeitsdarstellung in ein Turnier zu starten, bereits vor dem ersten Spiel offene Konfrontation mit den Medien zuzulassen – es waren gewagte Schritte, die Jonker da unternahm. Sie erinnerten in der Art eher an seinen langjährigen Vorgesetzten, den stolzen van Gaal, und nicht an den besonnenen Andries Jonker.
Den braucht es nun an der Seitenlinie, bei dem Programm, das noch bevorsteht. Das einfachste Spiel in der herausfordernden Gruppe D hat Oranje gegen Wales schon bestritten, am Mittwoch treffen die Niederlande in Zürich auf England, das nach der Auftaktniederlage gegen Frankreich bereits arg unter dem Druck steht, gewinnen zu müssen. Jonker wird dann seiner langjährigen Weggefährtin Sarina Wiegman gegenüberstehen – und seinem Nachfolger, dem derzeitigen englischen Co-Trainer Arjan Veurink. Dass der bereits bekannt ist, ist ein weiteres Element der bislang so eigentümlichen EM der Niederländerinnen, die sich links und rechts mit allen möglichen Debatten beschäftigen müssen. Und denen nur die Flucht in den sportlichen Erfolg bleibt, um einen Ausweg zu finden.