
Beginnen wir mit einer kleinen Befragung: Wie zufrieden sind Sie, lieber Leser, liebe Leserin, mit Ihrem derzeitigen Leben? Und wie zufrieden sind Sie mit dem Zustand Ihres Landes?
Wenn Sie die erste Frage mit „sehr“ oder „eher zufrieden“ beantworten, die zweite jedoch mit „eher nicht“ oder „gar nicht zufrieden“, sind Sie zumindest in dieser Hinsicht ein durchschnittlicher Deutscher. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie des Marktforschungsinstituts Rheingold Salon sagen 85 Prozent der Deutschen, dass es ihnen und ihrer Familie gut gehe. Zugleich stimmen fast ebenso viele (78 Prozent) der Aussage zu: „Wir fahren das Land an die Wand, wenn wir so weitermachen wie bisher.“
Ihre persönliche wirtschaftliche Lage bewerten, wie die Forschungsgruppe Wahlen ermittelt hat, 57 Prozent der Deutschen als gut, acht Prozent als schlecht; die allgemeine wirtschaftliche Lage jedoch fast spiegelverkehrt nur neun Prozent als gut, 32 Prozent als schlecht. Während außerdem verschiedene Glücksindizes anzeigen, dass das subjektive Wohlbefinden der Deutschen einen Höhepunkt erreicht hat oder sich ihm nähert, glauben so viele Bürger wie noch nie seit der Wiedervereinigung, dass „die Verhältnisse in Deutschland heute Anlass zur Beunruhigung“ bieten (nämlich, laut dem Allensbach Institut, 82 Prozent).
Ist das nicht paradox? Gewiss würden jedem gute Gründe einfallen, warum man mit dem Zustand des Landes hadern kann, selbst wenn man persönlich zufrieden ist: die anhaltende wirtschaftliche Stagnation, die politische Polarisierung, die marode Infrastruktur und vieles mehr. Dennoch darf man fragen, wie groß und einschneidend diese Missstände sind, wenn vier von fünf Deutschen sich in ihrem Wohlbefinden von ihnen offensichtlich nicht beeinträchtigt sehen.
Dass man die Lage negativ bewertet, weil es einem selbst gut geht, vielen Mitbürgern aber schlecht, kann man angesichts solcher Zahlen jedenfalls nicht als Argument anführen. Wie erklärt sich also das Zufriedenheitsparadoxon, die Diskrepanz zwischen persönlicher und allgemeiner Zufriedenheit?
Persönliche Situation immer schon positiver
Für Renate Köcher ist sie grundsätzlich nichts Neues. Das Allensbach Institut, dem sie als Geschäftsführerin vorsteht, stellt den Deutschen seit seiner Gründung 1947 immer wieder ähnliche Fragen und kann dadurch Muster ebenso wie Veränderungen feststellen. Dass die Menschen die Lage in ihrem persönlichen Umfeld deutlich positiver sehen als die Lage in Deutschland, beobachten die Meinungsforscher seit Langem, gleichviel, ob es um Schulen, Kriminalität oder Lebensqualität im Allgemeinen geht. So haben die Verhältnisse in Deutschland noch in jedem Jahr seit Messbeginn 1991 einer Mehrheit „Anlass zur Beunruhigung“ geboten.
Köcher führt das auf die unterschiedlichen Grundlagen unserer Einschätzungen zurück: „Persönliche Zufriedenheit bewertet man in erster Linie nach persönlichen Erfahrungen. Die Lage des Landes kann man so aber nur schwer einschätzen. Hier stützt sich das eigene Urteil vor allem auf die Berichterstattung in den Medien.“ Diese konzentriere sich seit jeher auf Schwachstellen, da mit Skandalen mehr Aufmerksamkeit zu erzielen sei als mit Erfolgen – only bad news is good news.
Grad der Unzufriedenheit variiert
Ein medial vermitteltes Problembewusstsein gibt es also immer, und „kritisches Denken“ wird in deutschen Schulen seit 1945 schließlich auch besonders gefördert. Als wie gravierend die Probleme wahrgenommen werden, unterliegt gleichwohl erheblichen Schwankungen.
So gab es verschiedene Zeitpunkte in den vergangenen 35 Jahren, an denen sich zwar keine Mehrheit, aber doch eine große Minderheit keine Sorgen um die „Verhältnisse in Deutschland“ machte. Am zufriedensten mit dem Zustand ihres Landes waren die Deutschen demnach Anfang 2013, als der Anteil der besorgten Bürger (44 Prozent) nur knapp den Anteil der unbesorgten (41) übertraf. Im Februar 2025 stand es hingegen 82 zu acht.
Ein Blick auf die letzte große Krise in Deutschland zeigt zudem, dass auch die persönliche Betroffenheit stark variiert. In den Jahren 2003 bis 2005 waren ähnlich viele Deutsche unzufrieden mit dem Zustand des Landes wie heute, deutlich mehr als heute aber auch mit ihrer eigenen Situation. Damals bewerteten 40 Prozent der Deutschen ihre wirtschaftliche Lage als gut: immer noch ein passabler Wert, aber um ein knappes Drittel geringer als die derzeitigen 57 Prozent. 38 Prozent machten sich seinerzeit Sorgen um ihren Arbeitsplatz, und Glücksindizes erreichten einen Tiefpunkt.
Wirtschaftsflaute nicht im Leben angekommen
In dieser Hinsicht ist die gegenwärtige Situation für Köcher singulär: „Dass die Einschätzung ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage durch die Menschen so gut wie gar nicht darauf hindeutet, dass wir uns in einer gravierenden wirtschaftlichen Krise befinden, hat es in der Geschichte der Bundesrepublik meines Wissens noch nicht gegeben.“ Gleichwohl hält sie die Lagebeurteilung der Bevölkerung für durchaus nachvollziehbar.
Denn während makroökonomische Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt oder der Ifo-Geschäftsklimaindex seit Jahren ein düsteres Bild zeichnen, ist die Arbeitslosenquote weiter gering, die Reallöhne sind höher als vor einer Dekade, und Immobilien- sowie Aktienwerte haben sich überaus positiv entwickelt. Angesichts der demographischen Entwicklung ist es nicht verwunderlich, dass sich derzeit nur neun Prozent der Deutschen um ihren Arbeitsplatz sorgen.
Wirtschaft und Finanzen spielen eine bedeutende Rolle bei der Einschätzung der eigenen wie der politischen Lage. Die gegenwärtig besonders große Diskrepanz zwischen persönlicher und allgemeiner Zufriedenheit erklärt sich also zu einem guten Teil dadurch, dass die Wirtschaftsflaute zwar im Kopf, aber nicht im Leben der Menschen angekommen ist. Die Deutschen hören und lesen von der Krise, aber sie spüren sie nicht, oder zumindest nicht genug, damit sie ihre individuelle Lebensqualität beeinträchtigte.
Wenn Zukunftssorgen in Pessimismus umschlagen
Die Frage ist dann jedoch, ob wir nicht anders über diese „Krise“ sprechen, ob wir die Stärken und Schwächen unseres Landes nicht anders gewichten sollten. Muss man immer wieder den Niedergang des Wirtschaftsstandorts Deutschland, ja des Landes allgemein beschwören, wenn die meisten Bürger mit ihrem Leben zufrieden sind? Können wir nicht Verbesserungsbedarf identifizieren und gleichzeitig anerkennen, dass die Grundlagen unseres Wohlbefindens weiterhin intakt sind?
Ein Teil der allgemeinen Unzufriedenheit mag sich aus der Sorge um die Zukunft, nicht um die Gegenwart, erklären. Selbst in der eingangs zitierten Umfrage des Rheingold Salons sagen die Deutschen schließlich, dass „wir das Land an die Wand fahren, wenn wir so weitermachen wie bisher“ – nicht, dass wir das Land schon an die Wand gefahren haben.

Solche Zukunftssorgen können produktiv sein. Denn nur wenn wir vorhandene Probleme ernst nehmen, verhindern wir, dass sie künftig so stark wachsen, dass sie dann auch das persönliche Wohlbefinden der Menschen beeinflussen: sei es, weil Deutschland Krieg führt, weil jeder Sommertag 40 Grad heiß wird oder weil in manchen Schulklassen niemand mehr Deutsch spricht. So litten die Merkeljahre rückblickend gerade daran, dass die Wähler zu zufrieden mit dem Zustand ihres Landes waren und sich die Politiker zu wenig Sorgen um dessen Zukunft machten.
Es gibt jedoch einen Grad der Unzufriedenheit, der das Gegenteil von produktiv ist. Wenn Zukunftssorgen in Pessimismus umschlagen, gewinnen jene Kräfte Zulauf, die das Heil in einer verklärten Vergangenheit suchen. Das Gefühl, die etablierten Parteien würden das Land „an die Wand fahren“, führt dann zu dem Bedürfnis, es einmal mit einem radikal anderen Fahrer zu versuchen. Die allgemeine Unzufriedenheit zeitigt dann politische Entscheidungen, welche auch die persönliche Zufriedenheit im Durchschnitt sinken lassen können – so gemessen zuletzt in den USA nach der Wahl Donald Trumps.
Deshalb sollten wir unterscheiden zwischen Problembewusstsein und Fundamentalkritik, zwischen Reformvorschlägen und Pessimismus. Wir sollten aufhören, das eigene Wohlbefinden zuvorderst uns selbst zuzuschreiben, jegliche Schwierigkeiten aber dem Staat. Denn was ist Deutschland, nüchtern betrachtet, anderes als die Summe aller Deutschen? Wenn wir Deutschen aber mit unserem Leben zufrieden sind, sollten wir dann nicht auch ein wenig zufriedener mit dem Land sein, das ein solches Leben ermöglicht?