
Welche Eigenschaft auch immer es ist, die Jens Spahn befähigt, jegliche Anschuldigungen an sich abperlen zu lassen – der Unionsfraktionsvorsitzende braucht sie gerade wieder. Diesmal allerdings steht auch die aktuelle Bundesgesundheitsministerin Nina Warken in der Kritik. Spahns Parteikollegin hatte vergangene Woche dem Bundestag nach langem Zaudern den Aufklärungsbericht der Sonderermittlerin Margaretha Sudhof übermittelt – allerdings mit Hunderten geschwärzten Stellen, teils seitenlang.
Am Freitag berichteten NDR, WDR und Süddeutsche Zeitungaus dem Papier, das ihnen ohne Schwärzungen vorlag. Inzwischen hat auch das Portal FragDenStaat den ungeschwärzten Bericht veröffentlicht. Kommende Woche will sich Sudhof Fragen des Gesundheits- und des Haushaltsausschusses stellen. Im Fokus stehen dabei unter anderem Geschäfte mit dem Schweizer Unternehmen Emix, gegründet von zwei Jungunternehmern, die Corona zu Multimillionären machte.
Der damalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte die frühere SPD-Staatssekretärin Sudhof im Sommer 2024 beauftragt, die Maskengeschäfte aufzuarbeiten, die sein Vorgänger Jens Spahn im Frühjahr 2020 eingefädelt hatte. Sie kosteten den Bund fast sechs Milliarden Euro. Genutzt wurde weniger als ein Drittel der Masken, mehr als die Hälfte musste vernichtet werden, konstatierte der Bundesrechnungshof im vergangenen Jahr.
Sudhofs Bericht, der auf den Januar dieses Jahres datiert ist, wirft Spahn auf 168 Seiten viele Fehler vor. Zwar hätten in der Pandemie alle politischen Akteure „Unvorstellbares“ geleistet. Auf Spahn gemünzt aber schreibt Sudhof: „Fehlendes ökonomisches Verständnis und politischer Ehrgeiz“ hätten dazu geführt, „dass nicht als Team ‚Staat‘, sondern als Team ‚Ich‘ gehandelt“ wurde“. Spahn habe die Maskenbeschaffung an sich gerissen, anstatt sie spezialisierten Behörden zu überlassen, interne Warnungen ignoriert und immer wieder schwer nachvollziehbare wirtschaftliche Entscheidungen getroffen.
Drei komplett geschwärzte Seiten
Viele Belege dafür, wie eng er in diese Entscheidungen eingebunden war, gehörten zu den geschwärzten Stellen im Bericht. Der Rechercheverbund von ARD und SZ zitiert daher Interpretationen, die Schwärzungen seien politisch motiviert: Sie hätten Spahns Karriere schützen sollen, meint etwa der Verein LobbyControl, und nicht nur, wie das Bundesgesundheitsministerium (BMG) es begründete, „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter, unternehmens- und personenbezogene Daten, laufende Rechtsstreitigkeiten und Inhalte vertraulicher Vereinbarungen“. Das BMG weist den Vorwurf zurück.
Ein Blick in die Bericht-Varianten zeigt, dass viele Schwärzungen Namen und Fußnoten betrafen. Dazu gehören auch Belege für Kommunikation, in der Beamte Bedenken zum Beschaffungsprozess anmelden. Die Frage nach internen Warnungen verfolgt Spahn schon länger. In einem ARD-Interview im Juni hatte er nur angegeben, keine Warnungen aus dem Innen- und Verteidigungsministerium bekommen zu haben. Mittlerweile hat er eingeräumt, dass ihn aus dem eigenen Haus Bedenken erreichten.
Komplett geschwärzt waren aber auch drei Seiten, auf denen es um einen Vergleich mit dem Schweizer Unternehmen Emix Trading geht. Emix belieferte in der Pandemie nicht nur das BMG, sondern auch die Schweizer Armee und die Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Bayern. Mit dem BMG schloss die Firma zunächst einen Vertrag über OP-Handschuhe ab, dann mehrere Verträge über Masken – dem Sudhof-Bericht zufolge allesamt ohne Prüfung, ob so viele Masken benötigt würden. Insgesamt bekamen die Schweizer demnach 749 Millionen Euro.
Hinter Emix stecken die beiden Schweizer Jascha Rudolphi und Luca Steffen; beide waren gerade Anfang 20, als die Coronapandemie sie reich machte. Gegründet hatten sie ihr Unternehmen 2016 noch als Teenager. Ihren Aufstieg kann man in Zeitungsporträts nachlesen: Demnach fingen die beiden Freunde mit Parallelimporten aus China an, später exportierten sie europäische Waren nach China. Wohl deshalb bekamen sie früh mit, dass sich dort eine Maskenpflicht abzeichnete – und erkannten, dass Europa nachziehen könnte, wenn sich das damals neuartige Virus ausbreiten würde.
Also kaufte Emix frühzeitig Masken. Die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden kam über CSU-Kontakte von Andrea Tandler zustande, Tochter der bayerischen Politgröße Gerold Tandler. Von Emix erhielt sie Vermittlungsprovisionen im zweistelligen Millionenbereich. Weil Tandler sie nicht richtig versteuerte, verurteilte das Landgericht München sie später zu mehr als vier Jahren Haft. Rudolphi und Steffen machten indes Schlagzeilen, weil sie sich teure Autos kauften.
„Aus dem Ruder gelaufene“ Beschaffung
Für Unverständnis sorgte bei Sudhof vor allem das letzte Geschäft des BMG mit Emix vom 23. und 24. April 2020: 100 Millionen Masken zum Stückpreis von 5,40 Euro. Zu dem Zeitpunkt sei bereits „überbeschafft worden“, weil das sogenannte Open-House-Verfahren – bei dem das BMG Unternehmen die Masken-Abnahme zu einem festgelegten Preis garantierte hatte – „aus dem Ruder“ gelaufen sei. Spahn verteidigte die erneute Bestellung später: Man habe nicht gewusst, wie viele Masken aus dem Open-House-Verfahren auch tatsächlich geliefert würden.
Bereits im Mai 2020 folgte ein Vergleich mit Emix, um die Liefermenge wieder zu drosseln. Sudhof fand ihn für die Schweizer sehr vorteilhaft: Der Preis pro Maske blieb der gleiche, mangelhafte Lieferungen sollten ersetzt werden, hatten sonst aber keine Folgen. Der TÜV Nord hatte zuvor 48 Prozent der FFP2-Masken und 40 Prozent der OP-Masken als mangelhaft eingeschätzt.
Beschrieben ist das im Sudhof-Bericht auf den vom BMG geschwärzten Seiten 45 bis 48. Das BMG habe Emix demnach die Möglichkeit eingeräumt, mangelhafte Masken bis Ende 2020 nachzuliefern – eine Chance, die andere Unternehmen wohl nicht erhielten. Dabei ging das BMG laut Sudhof nicht von den TÜV-Mängelquoten aus, sondern von niedrigeren, von Emix selbst eingeräumten Quoten: 20 Prozent bei den FFP2-Masken, 32 Prozent bei den OP-Masken. In einem Bericht an den Haushaltsausschuss kommunizierte das BMG im März 2021 nach den Nachlieferungen noch niedrigere Quoten – dieses Papier wertet Spahn nun als entlastend.
Opposition fordert Untersuchungsausschuss
Neben Emix stehen auch andere Unternehmen im Fokus, etwa der Logistiker Fiege. Das Unternehmen hat seinen Sitz nahe Münster in direkter Nachbarschaft zum Wahlkreis von Jens Spahn. Dem Sudhof-Bericht zufolge kontaktierte Spahn es vermutlich Anfang März 2020 selbst, als er entschied, die Maskenbeschaffung in die eigene Hand zu nehmen. Später, so die Ermittlerin, deutete einiges darauf hin, dass das Unternehmen überfordert gewesen sei.
Insgesamt, so liest sich der Bericht, habe Spahn Chaos verursacht. Selbst als die Logistik außer Kontrolle geraten sei, „suchte man die Lösung in einer weiteren Beauftragung“: Die Wirtschaftsprüfer von EY sollten Ordnung schaffen. Spahn hingegen beschrieb später – etwa in einem Interview mit dem Spiegel im März 2021 und in seinem Buch Wir werden einander viel verzeihen müssen – wie er realisiert habe, dass die klassische Beschaffung über die Ämter zu langsam gehe: „Es funktioniert besser mit jemandem, den man kennt.“
An diesem Wochenende äußerte er sich unter anderem in der Bild-Zeitung wieder ähnlich: Was er getan habe, sei nötig gewesen. Und: Die Schwärzungen im Sudhof-Bericht habe er sich nicht gewünscht, offenbar hätten sie ihm ja eher geschadet als genutzt. Ob er zurücktreten müsse? „Dafür, dass wir dieses Land sicher durch die schwere Zeit gebracht haben, werde ich mich nicht in den Staub werfen.“
Die Opposition sieht das anders: „Anstatt sich über kritische Nachfragen zu beschweren, sollte er jetzt endlich für Aufklärung sorgen und Verantwortung für seine Entscheidungen übernehmen“, sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann der Rheinischen Post. Grüne und Linke fordern einen Untersuchungsausschuss. Sie werfen der amtierenden Bundesgesundheitsministerin Warken vor, Spahns Verantwortung verschleiern zu wollen – was Warken zurückweist – und haben für die kommende Woche die Sondersitzungen des Gesundheits- und Haushaltsausschusses mit Margaretha Sudhof beantragt. Das BMG hat die Ermittlerin dafür von ihrer Schweigepflicht entbunden.