Philippe Sands‘ Buch „Die Verschwundenen von Londres 38“

Drei kurze Episoden stehen am Anfang von Philippe Sands’ neuem Buch. Die erste führt nach Santiago im August 1974, ein Jahr nach Pinochets Putsch: In einem Chevrolet-Kühlwagen werden politische Gefangene in die ehemalige Zentrale der Sozialistischen Partei in der Londres 38 gebracht. Dort wird verhört und gefoltert. Einer der Gefangenen ist Alfonso Chanfreau, ein 23 Jahre alter Philosophiestudent. Wie viele andere verschwindet er für immer.

Die zweite Episode spielt 24 Jahre später in einer Londoner Klinik. Am 16. Oktober 1998 wird Ex-Diktator Pinochet von der britischen Polizei verhaftet. Der spanische Richter Baltasar Garzón hat einen internationalen Haftbefehl erlassen. Der Vorwurf: Völkermord, Terrorismus, Folter – Verbrechen, die unter das Weltrechtsprinzip fallen und daher weltweit verfolgt werden können.

Episode drei: Juni 2015, Schloss Hagenberg in Österreich. Bei Recherchen für sein Buch „Die Rattenlinie“ (F.A.Z. vom 12. Januar 2021) stößt Sands auf einen Brief des NS-Kriegsverbrechers Walther Rauff. Ab 1941 war der SS-Offizier unter Reinhard Heydrich maßgeblich an der Entwicklung und dem Einsatz der „Gaswagen“ beteiligt, zu Tötungszwecken umfunktionierter Lkws, in denen Hundertausende Juden und andere Menschen getötet wurden – darunter wahrscheinlich auch eine Cousine von Sands’ Mutter. Nach 1945 entkam Rauff nach Chile, wurde Direktor einer Fabrik in Patagonien. Sands hört von Gerüchten, der SS-Mann habe enge Verbindungen zu Pinochet gepflegt und für dessen Geheimpolizei DINA gearbeitet.

Politik sticht Recht

Diese drei Episoden stecken auf engem Raum ab, was den Leser auf den folgenden sechshundert Seiten erwartet. Sands erzählt nicht eine, sondern zwei ineinander verwobene Geschichten. Die erste Geschichte ist das Londoner Gerichtsdrama um Pinochet. Der Fall schrieb Rechtsgeschichte. Denn die Verhaftung eines ehemaligen Staatsoberhaupts wegen internationaler Verbrechen war präzedenzlos. Heute wird die Frage mit Blick auf die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin und Netanjahu diskutiert. 1998 hingegen mussten nationale englische Gerichte klären, ob Pinochet Immunität genießt.

Philippe Sands: „Die  Verschwundenen von Londres 38“. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien.
Philippe Sands: „Die Verschwundenen von Londres 38“. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien.S. Fischer Verlag

Sands, selbst Anwalt, schildert das Verfahren aus erster Hand. Er hatte es abgelehnt, Pinochet zu vertreten. Stattdessen beteiligt er sich aufseiten der Anklage, als Streithelfer von Human Rights Watch. Sands hat zudem viele der beteiligten Juristen und Politiker Jahre später für sein Buch interviewt. Sie berichten erstaunlich offen, der Leser bekommt tiefe Einblicke in das britische, europäische und internationale Rechtssystem.

Schließlich wird Pinochets Immunität aufgehoben. Zu einer Auslieferung an Spanien kommt es allerdings nicht. Britische Ärzte erklären ihn für verhandlungsunfähig, Pinochet kehrt nach Chile zurück. Sands rekonstruiert: Die Dia­gnose war politisch motiviert, Teil eines Deals zwischen London und Santiago. Abgesehen von achtzehn Monaten Hausarrest in London bleibt Pinochet straffrei. Von Reue keine Spur. Er sei ein Engel, meint Pinochet. Politik sticht Recht.

Rauff prahlte, er stehe in Chile unter Denkmalschutz

Im zweiten Erzählstrang begleitet der Leser Sands nach Chile. Dort sucht er akribisch nach Beweisen: War Rauff bei Folterungen anwesend? Verantwortlich für Gefangenentransporte in Lkws? Beteiligte er sich an der Planung des Konzentrationslagers auf der Isla Dawson – einem Ort, der schon im neunzehnten Jahrhundert zur Inhaftierung indigener Gruppen diente?

Sands ist nicht der Erste, der die Verbindung zwischen Pinochet und Rauff untersucht – Literatur, Wissenschaft und Medien hatten das Thema aufgegriffen. Ein chilenischer Taxifahrer behauptet, jeder wisse von Rauff. Sands macht daraus keinen Hehl. Er diskutiert die vorliegenden Indizien ebenso wie das Ineinanderwirken von Fiktion und Realität.

Bei seiner Suche tritt zutage: Rauff arbeitete zeitweise für den BND. Ein Auslieferungsgesuch 1963 wegen seiner NS-Verbrechen wird negativ beschieden – weil die Massenvernichtung nach chilenischem Recht verjährt war. Der Mossad verfolgte Rauff, doch er entging Attentat und Entführung. Von Reue auch bei ihm keine Spur. Er stehe, so prahlt er, in Chile unter Denkmalschutz.

Eine Globalgeschichte der Straflosigkeit

Sands’ größte Herausforderung: Es gibt keine schriftlichen Belege für oder wider Rauffs Arbeit für die DINA. Sands ist vollständig auf Zeugenaussagen angewiesen. Eine dieser Aussagen ist besonders eindrucksvoll. Der Zeuge erstarrt, als Sands ihm eine Aufnahme von Rauffs Stimme vorspielt. Später wird die Szene Sands an Ariel Dorfmans Theaterstück „Der Tod und das Mädchen“ erinnern, in dem eine Gefangene ihren Folterer ebenfalls an seiner Stimme erkennt.

Sands’ Schlussfolgerung lautet, dass Rauff auch in Chile Menschen verschwinden ließ – diesmal nicht durch Gas, sondern in Kühlwagen. In der letzten Szene des Buches legt Sands seine Recherchen Mario Carroza, Richter am Obersten Gerichtshof Chiles, vor. Aussagen von Folteropfern und Tätern, die Rauffs Beteiligung nahelegen. Carrozas Urteil: Nach über zwanzig Jahren eigener Untersuchungen halte er Sands’ Material für ausreichend, um eine Rechtsvermutung hinsichtlich Rauffs Verwicklung in die DINA aufzustellen.

Sands’ Buch ist exzellent recherchiert. Der Autor ist ein Freund detailreicher, Beschreibung. Die Fülle an Informationen mag anspruchsvoll sein, manchmal auch redundant. Doch vieles davon ist wichtig, etwa um zu zeigen, welchen Unterschied Einzelne in juristischen Verfahren machen können oder wie Sands zu seinen Schlüssen über Rauff gelangt.

Das Buch ist der Abschluss von Sands’ „East West Street“-Trilogie. Es ist eine Globalgeschichte der Straflosigkeit. Pinochets und Rauffs Taten bleiben ungesühnt – und dennoch setzt die Verhaftung Pinochets in London etwas in Bewegung. „Was mir meine Stimme gibt“, so die Witwe des verschleppten Philosophiestudenten Alfonso Chanfreau, „ist der Kampf für Gerechtigkeit und Wahrheit.“

Philippe Sands: „Die Verschwundenen von Londres 38“. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien. Aus dem Englischen von Thomas Bertram und Henning Dedekind. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2025. 624 S., geb., 29,– €.