
Mitte Juni, oben auf dem Hochplateau von Combloux in den französischen Alpen, wird Florian Lipowitz mit seiner sportlichen Vergangenheit konfrontiert. Soeben hat er beim schweren und sehr gut besetzten Critérium du Dauphiné das Weiße Trikot des besten Jungprofis erobert. Nun, ein paar Minuten später, steht er hinter der Bühne, auf der sich das Podium befindet, und spricht mit dem Franzosen Éric Perrot, der ist, was Lipowitz mal war: ein Biathlet. Ein ziemlich erfolgreicher, Perrot ist aktueller Einzel-Weltmeister. Perrot haut Lipowitz mehrmals anerkennend auf die linke Schulter. Später sagt der Franzose: „Das, was Florian gerade macht, ist unglaublich und einmalig. Für mich ist das nicht zu fassen. In einer völlig anderen Sportart Weltklasse zu werden, das ist surreal für mich.“
Das, was der 24 Jahre junge Florian Lipowitz gerade macht, verblüfft in der Tat die Fachwelt – und zwar im Radsport. Bei der Dauphiné gewann er nicht nur das Weiße Trikot, vor ihm in der Gesamtwertung lagen nur die derzeit weltbesten Rundfahrer Tadej Pogačar und Jonas Vingegaard, die sich die letzten fünf Toursiege untereinander aufteilen. Abgehängt hatte der 24 Jahre alte Lipowitz unter anderem den Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel, der im vergangenen Jahr Dritter wurde bei der Tour. Und plötzlich hat Deutschland wieder einen Radsportler, dem eine gute Platzierung bei der Tour de France zuzutrauen ist. Vielleicht sogar eine Topplatzierung.
Dabei hatte Lipowitz seine Sportkarriere als Biathlet begonnen. Mit seinen Eltern und seinem Bruder Philipp zog er einst von Laichingen auf der Schwäbischen Alb nach Stams in Tirol, damit die Brüder dort aufs Skigymnasium gehen konnten. Florian Lipowitz wurde deutscher Juniorenmeister und schien auf dem besten Weg ins deutsche Weltcupteam. Philipp Lipowitz wurde 2021 sogar Junioren-Weltmeister. Während er inzwischen regelmäßig für Deutschland im IBU-Cup, der zweiten Biathlonliga, startet, stockte die Biathlonkarriere von Florian Lipowitz.
Eine Wachstumsfuge in einem Knie hatte sich entzündet, da war er 16. Bald darauf riss er sich beim Surfen auch noch ein Kreuzband, Langlaufen und das Hinfallenlassen beim Liegendschießen fielen ihm zunehmend schwer. Doch Radfahren, die klassische Trainingsbeschäftigung der Biathleten im Sommer, funktionierte. Und wie. Lipowitz gewann mit 18 den Engadiner und den Imster Radmarathon – und hatte damit die Radsportszene auf sich aufmerksam gemacht.
Die 150 Kilometer zum Bewerbungsgespräch kam er mit dem Rad
Lipowitz meldete sich nach diesen Erfolgen im Winter 2019 bei Ralph Denk, dem Teamchef von Red Bull-Bora-hansgrohe. Am Telefon sagte Lipowitz, er wolle Radprofi werden, und fragte, was er dafür machen müsse. Denk war erstaunt, gleichzeitig imponierte ihm dieses forsche Auftreten. Weil auch Dan Lorang, der Cheftrainer des Teams, von Lipowitz‘ Leistungsdaten angetan war, lud Denk den einstigen Biathleten in sein Büro im bayerischen Raubling in der Nähe von Rosenheim ein.
Lipowitz reiste aus Stams mit dem Rad an, 150 Kilometer über Berge und durch Täler. „Da war ich platt“, sagt Denk. „Das hat mir gezeigt, dass es dieser Kerl so richtig ernst meint. Er machte auf mich den Eindruck eines Jagdhundes, der unbedingt jagen will. Das ist schon mal eine gute Voraussetzung.“ Auf die Frage, wie er nach dem gemeinsamen Mittagessen nach Hause komme, habe Lipowitz geantwortet: So wie ich gekommen bin, mit dem Rad. „Da war ich noch mal platt.“
Denk und Lorang besorgten Lipowitz für drei Jahre einen Platz bei der zweitklassigen Mannschaft Tirol KTM, damals eine Art Ausbildungsteam von Bora. „Dort haben wir schon gesehen: Da wächst jemand aber ganz toll heran“, sagt Denk. 2023 rückte Lipowitz in den Kader von Bora auf, war nun Teil der ersten Liga des Radsports und überzeugte auch da sofort.
Lipowitz gewann kleinere Rennen und fiel dort vor allem als starker Bergfahrer auf. Diesen Status bestätigte er bei seiner Gesellenprüfung im vergangenen Spätsommer bei der knüppelharten Vuelta a España mit vielen schweren Bergwertungen. Auch dank seiner Hilfe gewann Primož Roglič, der Kapitän von Red Bull-Bora-hansgrohe, die Gesamtwertung. Lipowitz, obwohl als Helfer eingesetzt, wurde Siebter.
„Da entstand schon ein bisschen Druck bei mir“, sagt Lipowitz. „Das eine ist es, eine starke Leistung zu zeigen. Das andere ist es, sie auch zu bestätigen.“ Doch auch das gelang ihm. In diesem Jahr stieg er zu den Topfahrern auf. Bei der prestigeträchtigen Rundfahrt Paris-Nizza im März wurde er Zweiter und gewann die Nachwuchswertung. Hinzu kam Rang vier bei der schweren Baskenland-Rundfahrt im April, obwohl er zuvor wegen eines grippalen Infekts nicht richtig trainieren konnte. Es folgte die Dauphiné, Lipowitz‘ vorläufiges Meisterstück: überzeugendes Zeitfahren, überragende Leistungen in drei aufeinanderfolgenden Alpenetappen, Platz drei in der Gesamtwertung, bester Jungprofi. „Das ist echt viel auf einmal, damit hätte ich niemals gerechnet“, sagte er danach.