
Warme Milch tröstet. Sie umarmt die Einsamen, beruhigt die Zweifelnden, wärmt jene, die frieren. Sie erinnert an die Zuflucht des mütterlichen Leibs: das vollkommene Zu-zweit-Sein in der Welt. An den Moment, bevor das Leben in Ich und anderes zerreißt. Danach hat Milch nie mehr die gleiche Temperatur. Aufgewärmt im Topf bleibt sie entweder zu kalt oder kocht zu heiß, bildet eine Haut, wird dick, bitter, bevor sie überläuft und alles besudelt. Heiße Milch verbrüht das Kind, auch das erwachsene noch.
In „Hot Milk“, dem Regiedebüt von Rebecca Lenkiewicz nach dem Roman von Deborah Levy, steht sie als Sinnbild: für den Verlust von Geborgenheit, die in Kontrollsucht umschlägt – eine Mutter-Kind-Beziehung, die schal und schmerzhaft geworden ist.
Die elterliche Abhängigkeit steht kopf
Lenkiewicz schickt ihre Protagonistinnen, Mutter Rose und Tochter Sofia, an die spanische Küste: nach Almería. Ein Ort, an dem einzig das Meer lockt. Rose, gespielt von Fiona Shaw, sucht dort Heilung für ihre Leiden. Sie sitzt im Rollstuhl, klagt über Lähmungen in den Beinen und Schmerzen überall sonst; nur manchmal kann sie laufen. Ihr Haus in London ist gepfändet, der Vater fort, das alte Leben verwaist. Almería ist ihre letzte Zuflucht.
Rose begibt sich in die Obhut von Doktor Gomez (Vincent Perez), der nicht mit ärztlichem Titel angesprochen werden will, vielleicht auch keinen trägt. Lenkiewicz lässt ihre Zuschauer im Unklaren, was Gomez eigentlich praktiziert. Physiotherapie? Psychologie? Schamanismus? Rose jedenfalls befindet schon vor dem ersten Klinikbesuch, sie habe das falsche Kleid gewählt. Mächtiger als ihr Körper noch ist ihr Kopf.
Sofias einzige Aufgabe an diesem Ort ist Rose; das elterliche Abhängigkeitsverhältnis steht kopf. Während sie einerseits alles für ihre kranke Mutter leistet, lässt diese bei jeder Gelegenheit raus, woran ihre Tochter scheitert: am Studium, am Führerschein, am Leben, ganz generell. Emma Mackey, bekannt als Maeve aus „Sex Education“, leiht Sofia ihre grämenden Augen. In ihnen funkeln Galaxien unterdrückter Wut gegen die wachsende Bitterkeit der Mutter, die Shaw mit tief zerfurchten Gesichtszügen verkörpert.

Das Mienenspiel beider trägt mehr von der Handlung als ihre Dialoge. Das überrascht nicht: Regisseurin und Drehbuchautorin Lenkiewicz stand vor der Herausforderung, die Introspektion eines Romans in Ich-Form auf die Leinwand zu übertragen.
Ein neurotischer Wiederholungszwang
Auf der Ebene der Bildsprache gelingt das durch die Kamera von Christopher Blauvelt und Mark Towns’ Schnitt. Immer wieder blicken wir als Zuschauer auf statische, wohlkomponierte Totalen, die die Unbeweglichkeit der Bindung beider spiegeln: den grauen Beton und die grauen Menschen in Almería, die Klinik von innen, deren einzige Patientin Rose zu sein scheint – und immer wieder das Meer: Zuflucht und Gefahr zugleich; ein janusköpfiger Ort, den Sofia aufsucht, um der Mutter zu entkommen, an dem sie allerdings von Quallen verbrannt wird. Nicht nur die Milch ist heiß, auch das Wasser ist es: Am Strand begegnet Sofia Ingrid (Vicky Krieps), die amazonenhaft zu Pferd daherreitet, eine Erlöserin in weißem Gewand. Auch wenn das symbolisch etwas dick aufgetragen ist.

Ingrid, die nicht nur wie eine junge Version von Rose aussieht, sondern im Verlauf des Filmes auch zunehmend so spricht, sucht Sofias Nähe. Filmisch klug eingeleitet wird damit ein neurotischer Wiederholungszwang: Die gestörte Liebe zur Mutter überträgt sich auf ihr Ebenbild; erst im unschuldigen Gespräch über Margaret Mead, die berühmte Anthropologin, zu der Sofia nicht nur forscht, sondern auch ihre eigene Adoleszenz reflektiert, später auch durch forsche Küsse im fahlen Mondlicht.
Sie habe ihre Liebesszenen nicht für den „male gaze“, die Linse männlicher Phantasien, entwerfen wollen, sagt Lenkiewicz – und tatsächlich: Dem Voyeur, der seine Anschauungsobjekte erotisiert, wird hier kein Angebot gemacht. Die küssenden Frauen sind kaum zu sehen im Halbdunkel der Nacht, ihre Körper durch die Kamera an den Hälsen abgeschnitten. Nur auf der Tonspur hören wir sie tief und lustvoll atmen.
Stellenweise fehlt Stingenz
Ohnehin ist es neben den Kameraeinstellungen der Ton, der in „Hot Milk“ Atmosphäre schafft. Der Soundtrack, den Matthew Herbert komponiert hat, ist spärlich eingesetzt. Meist ist bloß Alltägliches zu hören: surrende Stubenfliegen etwa oder das nervtötende Kläffen eines angeleinten Hundes in der Ferne. Auch der ist Sinnbild: an der kurzen Leine – wie Sofia selbst.
Hier zeigt sich die einzige Schwäche von Lenkiewicz’ Film. Er ist überladen mit Metaphern, die nicht auf der Symbolebene operieren, sondern immer wieder in die Handlung drängen: Stiefel, die im Meer baden gehen – ein Fortspülen der materiellen Habseligkeiten; ein Baum, dessen Äste angeschraubt sind – die Frage danach, was echt ist. Dem nur 93 Minuten langen Film raubt das stellenweise seine Stringenz.
Dennoch ist „Hot Milk“ sehenswert, weil er zwischen Sommerromanze à la „Call Me by Your Name“ und schwermütigem Drama im Stil von „The Lost Daughter“ changiert – und es dabei schafft, durch die libidinöse Übertragung von Mutter auf Liebhaberin beides ineinanderzuflechten, bis schließlich selbst die romantische Liebe an der mütterlichen krankt. Das muss als Mahnung verstanden werden: dass Kinder ihren Eltern nichts schulden, nicht einmal ihr Leben – und Milch ohnehin am besten kalt schmeckt.