
Die Frankfurter Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg hat deutlich mehr Raubgut aus der Zeit des Nationalsozialismus in ihren Beständen als erwartet. Dies haben erste Provenienzforschungen ergeben. „Wir haben um die neun Prozent Raubgut gefunden“, erläutert Provenienzforscher Daniel Dudde. Gerechnet worden war mit rund 0,1 Prozent im untersuchten Bestand, ausgehend von vergleichbaren Institutionen.
Zusammen mit Darleen Pappelau hat Dudde in den vergangenen fünf Jahren mehr als 75.000 Bücher der Bibliothek untersucht, die während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit in die Bibliothek gekommen waren. Für rund 7.500 Büchern ist ein unrechtmäßiger Entzug wahrscheinlich, ein Großteil kommt dabei von einem Vorbesitzer: Mehr als 5.000 der Bücher stammen aus dem Antiquariat Baer, das laut dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste als das vielseitigste Antiquariat Deutschlands galt.
Bis 1933 hatte das Frankfurter Antiquariat einen Bestand zwischen 600.000 und 1 Million Bänden. 1934 wurde es von den Nationalsozialisten liquidiert. Mehr als 100.000 dieser Bücher gingen in verschiedene Frankfurter Bibliotheken über, erklärt Dudde. So gelangten sie später in den Bestand der Universitätsbibliothek. Das Projektteam habe nun damit begonnen, nach den Erben der Familie Baer zu suchen, um gemeinsam eine faire und gerechte Lösung zu entwickeln, so die Bibliothek.
„Selbst ein einzelner Strich kann eine Spur sein“
Nach einem ersten Gutachten, das vor zehn Jahren in Auftrag gegeben worden war, hatte die Bibliothek 2020, gefördert durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und mit Zuschüssen der Stadt Frankfurt, das Projekt zur Provenienzforschung begonnen. Die Bücher wurden auf Provenienzspuren wie Stempel, Widmungen, Signaturen oder Händlereinträge überprüft, die Hinweise auf frühere jüdische Besitzer geben könnten. „Selbst ein einzelner Strich kann eine Spur sein“, sagt Dudde. Das Ziel sei es, die Vorbesitzer zu ermitteln und mit ihnen eine Lösung im Sinne der Washingtoner Erklärung von 1998 zu entwickeln. Diese legt fest, mit den Vorkriegseigentümern oder ihren Erben sollten „rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden“.
Die hohe Anzahl an Naziraubgut in der Bibliothek ist angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt nicht ganz überraschend. Die jüdische Bevölkerung, die einen großen Teil der Stadtgesellschaft ausmachte, wurde enteignet, vertrieben und in die Konzentrationslager deportiert. Gleichzeitig entstanden in der Stadt rasch Einrichtungen wie das pseudowissenschaftliche „Institut zur Erforschung der Judenfrage“. Der Nationalsozialismus sei auf der ganzen Verwaltungsebene mitgetragen und unterstützt worden, so Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD). „Die Stadtverwaltung spielte da eine beschämende Rolle.“ Gerade deswegen sei es nötig, die Herkunft aller Objekte im Besitz der Stadt zu erforschen.
Die Ermittlung der Erben geht weiter
Eine weitere Quelle vieler Bücher ist das Archival Depot, das nach dem Krieg in Frankfurt als Sammelstelle für geraubte und verwaiste Buchbestände eingerichtet wurde und später nach Offenbach zog. Es trug Millionen Bücher zusammen, die in der NS-Herrschaft in europäischen Ländern geraubt wurden. Da eine Rückgabe an die Eigentümer oft nicht möglich war, wurden viele Bücher von 1947 an der Universität Frankfurt übergeben.
Da die Universitätsbibliothek aus vielfachen Zusammenschlüssen entstand, sei die Quellenlage schwierig, so Dudde. Erst seit 2005 besteht die Bibliothek in ihrer heutigen Form. Die einzelnen Vorgängerbibliotheken hatten sehr unterschiedliche Arbeitsweisen, Bestände und auch Kriegsschäden. Es sei daher nötig gewesen, jedes einzelne Buch auf Spuren zu überprüfen, so Dudde. Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Universität, sagte, die Forscher hätten täglich jeweils rund 50 Bücher untersucht. „Diese Leistung ist nicht hoch genug einzuschätzen.“
Die Arbeit ist noch lange nicht abgeschlossen. Bisher konnte für 90 Bücher „eine gerechte Lösung im Sinne der Washingtoner Erklärung gefunden werden“, so die Bibliothek. Die Ermittlung der Erben der übrigen rund 7.400 Bücher gehe weiter. Außerdem hat die Universitätsbibliothek schon im Februar ein zweites Forschungsprojekt begonnen. Diesmal wird die Provenienz von alten und wertvollen Drucken aus dem 16. bis 20. Jahrhundert erforscht. Innerhalb von zwei Jahren wollen Dudde und Pappelau nun 30.000 Bücher untersuchen. Auch dann aber wird die Suche nach Raubgut in der Universitätsbibliothek nicht abgeschlossen sein. Insgesamt müssten in den nächsten Jahren mehr als 1,3 Millionen Objekte überprüft werden.