
Beim Kaffee unter der afrikanischen Sonne erzählt der Mann aus Tansania von den verstörenden Eindrücken seiner Europareise. Er war nach Nordeuropa zu einer Freundin geflogen, doch nicht Dunkelheit und Kälte bedrückten ihn, sondern das, was er auf der Arbeitsstätte seiner Freundin sah. Ein großes Haus, in jedem Zimmer ein alter Mensch, allein, stumm und wissend, dass das Einzige, was hier noch kommt, der Tod ist. Seine Freundin war Pflegerin in einem Altenheim. Was sie ihm zeigte, verfolgt ihn bis heute: „Warum tut ihr so was mit euren alten Menschen?“
Die Frage ist berechtigt, ebenso wie die sich anschließenden Gedanken: Was macht das alles mit den Menschen und der Gesellschaft? Ginge das nicht auch ganz anders? Solche Fragen waren auch der Ausgangspunkt einer Kommission von Wissenschaftlern und Politikern, die die Weltgesundheitsorganisation WHO beauftragt hatte, die gesundheitlichen Folgen von Alleinsein und Einsamkeit zu untersuchen. „Wir hatten gedacht, dass Kontaktmangel und Einsamkeit in erster Linie ein Problem alter Menschen in reichen Ländern ist“, sagte Etienne Krug, Direktor des Departments für soziale Gesundheitseinflüsse der WHO während einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche. Tatsächlich aber ergab die umfangreiche Literatursichtung und Auswertung bisheriger Erfahrungen eine ganze Reihe von Überraschungen.
Das Problem entpuppte sich nicht nur als sehr komplex, sondern auch als universell, wachsend und folgenreicher als lange angenommen, sagte Vivek Murphy, Co-Leiter der WHO-Kommission. Am Montag wurde der Bericht der Kommission veröffentlicht, er ist nach Aussagen seiner Autoren der erste weltweite Überblick zu Ausmaß und Folgen der Vereinsamung.
Der Report bestätigt, dass Alleinsein, definiert als das Fehlen von Kontakten, tatsächlich unter alten Menschen am häufigsten ist. Weltweit leben 25 bis 34 Prozent von ihnen weitgehend isoliert von anderen. Auch Angehörige von Randgruppen, chronisch kranke Menschen sowie in den wohlhabenderen Ländern auch jene, die kranke Angehörige pflegen, scheinen überproportional betroffen. Exakte Zahlen sind allerdings rar.
Die Jüngsten fühlen sich am einsamsten
Ein anderes Bild offenbart sich dagegen bei der Einsamkeit, jenem schmerzhaften Gefühl, das sich einstellt, wenn Anzahl und Nähe der Beziehungen nicht den eigenen Bedürfnissen entspricht. Alleinsein und Einsamkeit hängen zusammen, allerdings nicht sehr stark, was sich unter anderem an den unterschiedlich stark Betroffenen zeigt.
Weltweit berichten dem Report zufolge im Schnitt 16 Prozent aller Menschen, dass sie sich einsam fühlen. Unter Teenagern aber äußern 21 Prozent diese Empfindung. Mit zunehmenden Alter nimmt das Gefühl dann offenbar ab. Überraschend war auch der Befund, dass sich geografisch gesehen Afrika als der einsamste Kontinent herausschälte. 24 Prozent seiner Bevölkerung fühlen sich nicht ausreichend mit ihren Mitmenschen verbunden, während sich in Europa nur zehn Prozent als einsam empfinden.
Die Unterschiede lassen sich sehr wahrscheinlich durch kulturelle Gepflogenheiten erklären. In Regionen mit eher kollektivistischen Werten wie in Afrika sind die Erwartungen an viele und enge Kontakte hoch. Werden sie nicht erfüllt, schmerzt es heftiger und geht häufiger mit Scham und Stigmatisierungen einher. In eher individualistisch geprägten Kulturen wie denen Europas kann dagegen eine große Unabhängigkeit auch als Stärke und somit positiv empfunden werden.
Was allerdings die Menschen dieses Planeten eint, ist, dass der echte oder empfundene Kontaktmangel ihre Gesundheit bedroht. Sowohl die soziale Isolation als auch das Gefühl der Einsamkeit seien ein „unterschätzter Risikofaktor für Gesundheit und Wohlbefinden“, warnen die Autoren des Reports. Sie machen Einsamkeit für nahezu 880 000 Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Allein zu sein, ist Studien zufolge mit einem etwa 30 Prozent erhöhtem Risiko für einen vorzeitigen Tod verbunden, wobei allerdings die Schätzungen vor allem aus reicheren Staaten stammen.
Studien, ebenfalls überwiegend aus wohlhabenden Ländern, zeigen zugleich ein um bis zu 30 Prozent höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen für jene, die allein oder einsam sind. Die Gefahr eines kognitiven Abbaus im Alter sei bei den Betroffenen um etwa 15 Prozent erhöht. Einsamkeit wird sogar mit einer bis zu 70 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit für die Alzheimer-Erkrankung in Verbindung gebracht. Auch eine ganze Reihe psychischer Leiden, darunter Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen und Suizidalität, werden dem bisherigen Kenntnisstand zufolge durch fehlende Kontakte begünstigt.
Die Autoren schränken ein, dass sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Kontaktarmut und Gesundheit in dem meisten bisherigen Studien nicht sicher belegen lässt. Dennoch gebe es starke Indizien für eine Kausalität, darunter auch plausible biologische Mechanismen. Wer allein oder einsam ist, kann mehr Stress empfinden, der wiederum ein bekannter Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist. Er wird mit höherer Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädigende Verhaltensweisen annehmen und etwa rauchen, zu viel Alkohol oder Drogen konsumieren. Menschen, nach deren Zustand sich kaum jemand erkundigt, halten sich im Krankheitsfall auch weniger gut an die Empfehlungen von Ärzten und Ärztinnen.
Den Betroffenen kann im Laufe der Zeit das Gefühl verloren gehen, dass ihr Leben eine Bedeutung hat, dass sie zählen und gebraucht werden. Es mangelt ihnen zudem häufiger an emotionaler Unterstützung und praktischer Hilfe – im Alltag ebenso wie in kritischen Lebenssituationen. Am Ende kann die Nähe zu anderen darüber entscheiden, ob im Falle von Herzinfarkt, Schlaganfall oder schwerem Sturz jemand da ist, der den Rettungswagen ruft, oder der hilflose Mensch zu jenen gehören wird, die erst Wochen nach ihrem Tod allein in ihrer Wohnung gefunden werden.
Lebendige Nachbarschaften spielen eine wichtige Rolle
Die Gründe für Einsamkeit und Alleinsein sind vielfältig und reichen von den individuellen Lebensverhältnissen bis in die Politik. Auf individueller Ebene begünstigen eine schlechte Gesundheit, Marginalisierung, geringere Bildung, ein niedriges Einkommen und womöglich auch ein übergroßes Maß an digitalen Aktivitäten die Kontaktarmut. Auf der kommunalen Ebene wirkt sich das Fehlen von Kontaktmöglichkeiten besonders ungünstig aus. Politisch und gesellschaftlich gesehen sind Vorstellungen, die sehr stark auf individuelle Verantwortung setzen, Treiber der Verlorenheit jener, die mehr benötigen als Appelle.
Denn Menschen mit guten gesundheitlichen und finanziellen Voraussetzungen mögen sich erfolgreich aus einsamen Lebensphasen herauskämpfen. Doch gerade die am stärksten Betroffenen – die ganz Jungen, die beim Weg ins Erwachsenenleben stolpern, die Alten, die Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen – haben eben nicht immer die Ressourcen, sich selbst zu helfen. Sie sind vielleicht sozial nicht erfahren genug oder nicht ausreichend mobil, um sich selbst um menschliche Kontakte zu bemühen. Die Autoren sprechen sich daher für sehr viel mehr Unterstützung dieser Menschen aus – „und zwar auf allen Ebenen“, wie Hauptautor Murphy mahnt. Individuelle Hilfe ist dem Team zufolge etwa in Form von Beratungen oder psychologischer Unterstützung möglich. Bisherige Studien sprechen dafür, dass sie einen kleinen bis moderaten Effekt auf die Kontaktfülle haben.
In den Kommunen sollten Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Kontakte erleichtern. Auch wenn vieles nicht gründlich untersucht ist, spricht die Erfahrung dafür, dass lebendige Nachbarschaften eine wichtige Voraussetzung für soziale Bindungen schaffen. Dazu gehören Begegnungsstätten, Plätze für Sport, Hobbys oder Freiwilligenprojekte, aber auch Orte, die Kontakt ermöglichen, ohne ihn zu erzwingen. Parks, Bibliotheken, preiswerte Cafés sind Beispiele dafür.
Man kann auch den kommerziellen Sektor einbeziehen, sagte Jakob Forssmed, schwedischer Gesundheitsminister, wo bereits an umfangreichen Hilfen gegen die Einsamkeit gearbeitet wird. Geschäfte oder Apotheken sind für manche Menschen die einzigen Orte, wo sie noch auf andere treffen. Man kann diese Plätze so gestalten, dass Menschen hier auch Informationen und Kontaktmöglichkeiten finden.
Einige Kommunen experimentieren zudem mit speziellen Programmen gegen die Einsamkeit, wie die sogenannten sozialen Verschreibungen, bei denen Ärzte, Psychologen oder Sozialarbeiter Menschen gezielt mit Anbietern sozialer Aktivitäten in Kontakt bringen. Wie hilfreich das ist, ist allerdings noch weitgehend unklar. Oft sind diese Programme nicht ausreichend evaluiert.
Die Autoren fordern daher sehr viel mehr Forschung zu dem Thema. Sie appellieren zudem an die Politik, Weichen für mehr Hilfen zu stellen. Das sei durchaus im Sinne der Politik, sagt der schwedische Minister Forssmed: „Wenn wir nicht an den sozialen Bindungen arbeiten, wird es auch der Wirtschaft schlechter gehen. Die Kosten für die Versorgung von Kranken und Älteren werden steigen; Kinder werden in der Schule schlechter abschneiden.“ Damit sei eine Politik für mehr Kontakte letztlich „ein Investment in Wachstum, Wohlstand und in gut funktionierende Gesellschaften“.