
Sie sieht deutlich älter aus, als sie ist: Für die Abtei St. Hildegard oberhalb von Rüdesheim-Eibingen ist erst vor 125 Jahren der Grundstein gelegt worden. Gerade noch rechtzeitig, meint Schwester Philippa Rath, die dem Vorstand der Klosterstiftung angehört. Denn nach Kirchenrecht erlöschen „juristische Personen“ wie Klöster und Ordensniederlassungen – sofern sie nicht vorher aufgehoben wurden –, spätestens 100 Jahre nachdem das Anwesen endgültig verwaist oder aufgegeben war.
Schon im Jahr 1802 hatten die Fürsten von Nassau vom damaligen Benediktinerinnenkloster in Eibingen Besitz ergriffen und damit schon ein Jahr vor dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, mit dem rechtlich das – vorläufige – Ende der Ordenstätigkeit gekommen war. Bis 1814 durften die Nonnen noch in ihrer Niederlassung bleiben. Dann kam der Räumungsbefehl. Die zweite Klostergründung der Hildegard von Bingen schien damit Geschichte.
Gründerin war Hildegard von Bingen
Was folgte, war schmerzlich: Die Nassauer Landesherren zauderten nicht lange und verwandelten die Klosterkirche in einen Kanonenschuppen. Der Ostflügel wurde den Klosterannalen zufolge als Zeughaus genutzt, der West- und Südflügel auf Abbruch versteigert. Erst 1831 wurde die alte Klosterkirche zur neuen Pfarrkirche der Ortschaft Eibingen, die 1939 gegen ihren Willen nach Rüdesheim eingemeindet wurde. In einem Schrein werden dort bis heute die Reliquien Hildegards aufbewahrt. Sie waren während des Dreißigjährigen Kriegs durch die damalige Äbtissin Anna Lerch von Dirmstein vor der Vernichtung gerettet worden.

Begonnen hatte die Eibinger Klostergeschichte im Jahr 1165, als das von Hildegard von Bingen gegründete Kloster Rupertsberg zu klein geworden war. Hildegard übernahm in Eibingen ein leer stehendes Augustinerkloster, entsandte Nonnen über den Rhein und leitete fortan beide Klöster. Bis zu ihrem Tod soll sie zweimal wöchentlich über den Rhein gefahren sein, um ihr Tochterkloster zu betreuen. Nach der Einäscherung des Klosters Rupertsberg 1632 durch schwedische Truppen übersiedelte der Konvent 1641 dann ganz nach Eibingen.
Dass mit der Zäsur des Jahres 1803 nicht das Ende der Eibinger Klostergeschichte gekommen war, verdanken die Benediktinerinnen vor allem dem Limburger Bischof Blum und seinem Nachfolger Karl Klein und der Tatsache, dass beide Kirchenmänner enge Beziehungen zum Fürsten Karl zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg unterhielten.
Dieser hatte den Wunsch nach Wiedergutmachung für den seiner Familie nach der Säkularisierung 1803 zugefallenen Kirchenbesitz. Er griff die Wünsche der Bischöfe nach der Wiederherstellung vor dem Hintergrund der Hildegard-Verehrung auf und stiftete ein neues Kloster. An seinen Plänen hielt er fest, obwohl es seiner ältesten, aber mit 36 Jahren am 2. Juli 1896 früh verstorbenen Tochter schließlich verwehrt blieb, erste Äbtissin der Wiedergründung zu werden, wie der Fürst es sich gewünscht hatte. Bis zu ihrem Tod war sie Nonne der Abtei St. Cécile im französischen Solesmes.
33 Benediktinerinnen erhalten das Erbe
Am 2. Juli 1900 begann der Bau der von Ludger Rincklage geplanten Anlage auf einer Anhöhe über Eibingen. Benutzt wurde von Quarzit durchsetzter Sandstein, der unter anderem aus dem Felsen oberhalb des Bauplatzes gewonnen wurde. Am 17. September 1904 zogen ein Dutzend Schwestern aus der Abtei St. Gabriel in Prag, dem ersten Frauenkloster der Beuroner Kongregation, in die neue Klausur ein. Papst Leo XIII. erhob das Kloster zur Abtei und gab ihm alle Rechte des ehemaligen Hildegard-Klosters zurück. Bis heute untersteht die Abtei nicht dem Ortsbischof, sondern unmittelbar dem Heiligen Stuhl in Rom.
Die Nonnen sind stolz auf ihren Bau, auch wenn er ihnen zu groß geworden ist, seit die Schar der Schwestern immer kleiner wurde. Mehr als 100 Schwestern waren es einmal – kurz vor der Vertreibung und Enteignung durch die Nazis im Jahr 1941. Wieder war es in diesem Kriegsjahr ausgerechnet ein 2. Juli, der für die Klostergeschichte besondere Bedeutung erhielt. Mitte März 1945 wurde das Lazarett im Kloster wieder geschlossen. Amerikanische Truppen erreichten Rüdesheim wenig später. Bald darauf erfolgte die Rückerstattung des Besitzes an die Abtei.
Heute sind es noch 33 Benediktinerinnen, die im Kloster leben, beten und arbeiten. Sie können ihren Lebensunterhalt mit ihren vielfältigen Geschäftsfeldern gut bestreiten, aber der Unterhalt der imposanten Immobilie überfordert sie mittel- bis langfristig. Aufgeben wollen sie ihr Domizil aber auf keinen Fall. Denn hier haben die vier Werkstätten ihren Platz, in denen kirchliche Archivalien restauriert werden, Keramikkunstwerke entstehen, neuerdings Bücher kunstvoll gebunden und sogar Goldschmuckstücke hergestellt werden.
Abtei mit Gästehaus, Café und Weingut
Die 16 Zimmer des Gästehauses sind sehr gut gebucht und sollen absehbar im Dachgeschoss noch um weitere ergänzt werden. Das Klostercafé, das von einer eigens gegründeten GmbH betrieben wird, trägt dazu bei, die Besucherfrequenz auch außerhalb der touristischen Rheingauer Hauptsaison auf einem guten Niveau zu halten.
Viele Besucher sind auch für den großzügigen Klosterladen wichtig, in dem nicht nur die Erzeugnisse des Klosters angeboten werden. Zum reichhaltigen Sortiment gehört auch Wein aus dem gut sieben Hektar großen Klosterweingut – dem einzigen in Deutschland, das von Nonnen selbst betrieben wird, wenn auch mithilfe eines angestellten Kellermeisters.
An- und ausgebaut werden Riesling und Spätburgunder, die bei der Landesweinprämierung regelmäßig Anerkennung finden. Die globale Krise des Weinkonsums hat sich bislang noch nicht beim Absatz der Klosterweine niedergeschlagen. Die Benediktinerinnen können zudem auf ihre Gründerin Hildegard verweisen, die in ihren naturkundlichen Abhandlungen auf die heilenden Wirkungen des Weins bei maßvollem Konsum hingewiesen hat.
Hildegards Empfehlungen nach „sollen die Kräfte eines schweren Weins gemildert werden entweder durch eingetauchtes Brot oder durch Zugießen von Wasser, weil er weder einem gesunden noch einem kranken Menschen zum Trinken nützt, wenn er nicht in dieser Weise gemildert ist“. Ein frühes Lob auf die Weinschorle.
Drei Millionen für Zukunftskonzept
Je weniger Schwestern im Kloster leben und je älter sie werden, desto mehr ist die Gemeinschaft allerdings auf angestellte Mitarbeiter angewiesen. Welchen Aufwand die Klosteranlage erfordert, zeigt gegenwärtig ein großes Gerüst. Die Ostdächer werden neu gedeckt, wie Äbtissin Katharina Drouvé sagt, die vor zwei Jahren zur 41. Nachfolgerin der heiligen Hildegard und zur sechsten Äbtissin im Neubau von St. Hildegard geweiht wurde.
Die Arbeiten sollen in diesem Sommer abgeschlossen werden. Im nächsten Jahr ist dann das Norddach der Kirche an der Reihe. Stellenweise sind es noch die gründerzeitlichen Schieferziegel, die dringend ausgetauscht werden müssen, um Schäden am Gebäude zu vermeiden.

Die Schwestern sind dankbar, dass ihnen diese Investition durch eine großzügige Förderung aus dem Denkmalschutzprogramm des Bundes in Höhe von 300.000 Euro erleichtert und überhaupt erst ermöglicht wird.
Das gilt auch für die Unterstützung bei den Überlegungen, wie es langfristig im Kloster weitergehen soll. Unter mehr als 100 Bewerbungen ist die Benediktinerinnenabtei im vergangenen Jahr für das Förderprogramm der „Nationalen Projekte des Städtebaus“ des Bundes ausgewählt worden. Sie erhält drei Millionen Euro, um ein Konzept erarbeiten zu lassen, wie eine „ressourcenschonende Transformation“ in die Zukunft möglich ist.
„Wir haben uns entschieden, hierzubleiben“
Im Kern geht es darum, die Klausur der Nonnen bei gleichzeitiger Hebung der Lebens- und Wohnqualität zu verkleinern und somit Raum zu schaffen für einen institutionellen Mieter, der langfristig denkt und die Spiritualität des Klosters zu schätzen weiß. Bis zu 40 Prozent des Wohnbereichs könnten die Schwestern für einen solchen Mieter frei machen, dazu das großzügige Souterrain des Klosters, das seinen Charakter bewahren soll. Auch energetisch gäbe es noch viel zu tun, um die laufenden Kosten zu senken. Auf der rückwärtigen, dem Rheingau abgewandten Seite könnte schon bald eine Photovoltaikanlage gebaut werden.
„Wir haben uns entschieden, hierzubleiben“, bekräftigt Schwester Philippa Rath und verweist auf die Pflege des Erbes der 2012 heiliggesprochenen Klostergründerin Hildegard. Zudem sind die Nonnen in Eibingen Eigentümerinnen der Anlage und keine Mieterinnen wie anderorts. Rath und Drouvé verweisen darauf, dass die Nachfrage nach Orientierung und Spiritualität wächst und es immer mehr Menschen gibt, die eine lange Auszeit vom Alltag nehmen und sich in dieser Zeit der klösterlichen Gemeinschaft anschließen wollen. Auf solche längeren Aufenthalte ist das Gästehaus aber bisher nicht ausgerichtet.
Ein weiterer Beleg für die Anziehungskraft des Klosters: Schwester Philippa Rath hat den Gesprächskreis „Trotzdem“ gegründet für solche, die aus der Kirche ausgetreten sind oder mit dem Gedanken hadern. Die Nachfrage ist groß. Äbtissin Katharina Drouvé sieht die Chance, mit dem Transformationsprozess St. Hildegard als spirituelles Zentrum dauerhaft zu erhalten und die Gastfreundschaft zu stärken.
Die Abtei wolle „offen sein für jeden, der kommt“. Es sei wichtig, sich „auf den Weg zu machen“, anstatt der Entwicklung abwartend zuzusehen. Wie ein im Sinne der Denkmalpflege „minimalinvasiver“ Umbau des Klosters aussehen könnte, wird noch ermittelt. Die Äbtissin schätzt, dass es in drei bis fünf Jahren endgültig Klarheit geben wird, wie der Weg konkret aussieht. Dass ein Umbau und eine Verkleinerung der Klausur möglich ist, haben die bisherigen Untersuchungen bestätigt. Es ist ein Transformationsprojekt, dem Modellcharakter zugeschrieben wird, weil andere Klöster eine vergleichbare Situation erleben. Gelingt dieser Prozess in Rüdesheim, könnte es in der deutschen Klosterlandschaft durchaus Nachahmer geben.