
Die Karriere des Isack Hadjar scheint vorbei, bevor er zum ersten Mal in der Startaufstellung der Formel 1 steht. Schließlich schafft er es beim Saisonauftakt in Melbourne gar nicht erst dort hin, sondern setzt seinen Racing-Bulls-Rennwagen noch in der Einführungsrunde in die Barrikaden des Albert Parks.
Die größtmögliche Demütigung für einen Neuling. Tränen fließen, dafür wird sich der Franzose, der auch die algerischen Staatsangehörigkeit besitzt, später fast noch mehr schämen als für den Fahrfehler auf feuchter Piste. Anthony Hamilton, der Vater des Rekordweltmeisters, sieht die Fernsehbilder des verzweifelten Piloten, fängt ihn im Fahrerlager ab, tröstet ihn.
Eine Runde Mitleid, und die ganze Welt kann zuschauen. Aus dem eigenen Lager kommt eher Unverständnis und Häme. Es ist nicht unbedingt das Image, dass sie sich in der Rennfahrerförderung von Red Bull für einen ihrer Auserwählten wünschen.
Hadjar ist eine der Entdeckungen dieser Saison
Ein gutes Vierteljahr später sitzt der 20-Jährige vor dem Großen Preis von Österreich an diesem Wochenende (Sonntag, 15 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Formel 1/Sky) an der Rennstrecke von Spielberg mit einem verschmitzten Lächeln und voller Angriffslust. Von den sechs Neulingen, die sich in diesem Jahr als Stammfahrer profilieren wollen, ist er nach Andrea Kimi Antonelli (Mercedes) der zweitbeste Pilot im Feld. Fünfmal ist Hadjar schon in die „Top Ten“ gefahren, mit 21 Punkten liegt er auf dem zehnten Rang in der Fahrer-Weltmeisterschaft.
Was viel wichtiger ist, ergibt sich aus dem direkten Vergleich: sein neuseeländischer Teamkollege Liam Lawson, auch eine Art Fahranfänger, kommt lediglich auf vier Punkte. Yuki Tsunoda, der an Lawsons Stelle zum zweiten Piloten des Mutterteams Red Bull neben Weltmeister Max Verstappen befördert wurde, sammelte nur zehn Pünktchen. Auch rein rechnerisch ist daher festzustellen: Isack Hadjar ist eine der Entdeckungen dieser Saison.
Die aktuelle Personalsituation bei den Rennställen des Brause-Konzerns gleicht einem Verschiebebahnhof, weshalb Hadjar als die nächstmögliche, vielleicht auch bestmögliche Alternative gilt, falls Max Verstappen auch den derzeitigen Nebenmann Tsunoda verschleißt. Der Japaner steht im fünften Jahr der Förderung unter Vertrag, es könnte das letzte sein. Schnell ist der 25-Jährige zwar, aber immer noch nicht reif genug. Da der Werksrennstall im nächsten Jahr nicht mehr mit Honda-Motoren an den Start gehen wird, bricht auch die Schützenhilfe aus Asien weg.
Kandidat Hadjar hat sich nach dem Fauxpas von Australien gegenteilig entwickelt. Chef-Ausbilder Helmut Marko kann zur Abwechslung auch mal loben: „Isack macht den Job unaufgeregt.“ Beim 82-Jährigen, Mentor der Champions Sebastian Vettel und Max Verstappen, hat das Bauchgefühl für die Rennfahrerentwicklung viel Gewicht. Kernsatz: „Schnell ist schnell.“
Isack Hadjar ist ein Spät- und Schnellstarter, weil er vergleichsweise spät mit Motorsport angefangen hat, erst mit zehn Jahren. Der Weg, den er durch die europäischen Nachwuchsformeln nehmen musste, war ein ziemlich harter. Inspiriert hat ihn zunächst eine Fernsehdoku über Ayrton Senna, erst aus der Serie hat er erfahren, dass der Brasilianer nicht mehr am Leben ist. Später wurde dann Lewis Hamilton zum Vorbild: „Mir hat sein ganz eigener Ansatz in den Rennen und bei Zweikämpfen imponiert.“ Genau darum geht es – vor allem als Rookie – in diesem Sport: die eigene Linie finden.
Nächste Zweitbesetzung für das Top-Team muss sitzen
Helmut Marko, für den Hadjar Fahrer Nummer 17 ist, den er innerhalb von zwei Jahrzehnten mit Hilfe von Mitarbeitern in die Königsklasse gebracht hat, muss abwägen. Die überhasteten Personalien Tsunoda und Lawson können ihm und Red-Bull-Teamchef Christian Horner als Fehlentscheidungen angelastet werden, die nächste Zweitbesetzung für das Top-Team muss sitzen, sonst bleiben Erfolge in der lukrativen Konstrukteurs-WM Utopie. Die Red-Bull-Garage ist neben der des kriselnden Ferrari-Teams derzeit die größte Druckkammer in der Boxengasse.
Isack Hadjar, der bei der Talkrunde vor dem elften WM-Lauf direkt neben Max Verstappen auf der Couch sitzt, kontert die offensichtliche Frage nach seinen Ambitionen mit einer Selbstverständlichkeit, als müsse er beantworten, auf welcher Seite im Cockpit sich das Gaspedal befindet. Dabei ist die Frage groß formuliert: Ob er sich als die Zukunft von Red Bull sehe? „Als ich vor vier Jahren einen Red-Bull-Vertrag unterschrieben habe, war das definitiv mein Ziel – in einem großen Team zu landen.“ Kunstpause, dann die ultimative Absichtserklärung: „Aber ja, dieser Aufstieg wäre der natürliche Weg – das muss ich auch nicht verheimlichen.“

Mit sympathischer Nachdenklichkeit fügt er an: „Aber ich bin noch auf dem Weg dorthin. Im Moment bin ich glücklich, wo ich bin, und lerne viel.“ Damit meint er nicht nur die Umgebung bei den Racing Bulls, dem eigens als Talentschuppen gegründeten Zweitrennstall, sondern auch die Situation im Mittelfeld der Formel 1. Es ist umkämpft wie kaum zuvor. Eine hohe technische Leistungsdichte sorgt dafür, dass am Ende der Fahrer den Unterschied macht, darin liegen Chance und Risiko zugleich. Lehrmeister Marko imponiert sein Schützling: „Er kommt auf jeder Strecke sofort auf Tempo, und das sehr unspektakulär. Wir wussten zwar, dass er schnell ist, aber dass er so konstant ist und mit relativer Leichtigkeit fährt, ist auch für uns eine Überraschung.“
Für die ganz großen Talente gelten keine gängigen Zeitpläne. Zumal das mit der Beförderung schneller passieren kann als gedacht. Max Verstappen ist nur einen Strafpunkt von einer Sperre entfernt, im Falle des Falles würde Hadjar als Aushilfe aufrücken. Vor ein paar Wochen noch hat er den Gedanken an das eher schwer zu fahrende Top-Auto als „etwas beängstigend“ gewertet, andererseits sei er auch ziemlich neugierig: „Ich würde gerne mal erleben, wie es auf höchstem Niveau ist.“
Für Last-Minute-Entscheidungen scheint Isack Hadjar präpariert. Im Vorjahr hat er erst im Dezember das letzte freie Cockpit für diese Saison ergattern können.