Anna Wintour verlässt „Vogue“ nach 37 Jahren als Chefin

Die frühen Jahre waren die besten. Als ­Anna Wintour Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“ wurde, hatte sie noch revolutionäre Ideen. Bis dahin sah die größte Modezeitschrift oft spießig aus. Das Model auf dem Titel war meist blond, retuschiert, bieder zurecht­gemacht. Wintour setzte im November 1988 das Model Michaela Bercu auf den Titel, lachend, die Haare in Wind, natürlich fotografiert von Peter Lindbergh, gestylt von der anarchischen Carlyne Cerf de Dudzeele. Zur Couture-Jacke von Christian Lacroix mit aufgenähten Klunkern in Kreuzform trug sie Stonewashed-Jeans von Guess. Aus der Druckerei kam der Anruf, ob das wirklich das richtige Bild für das Cover sei.

Am Donnerstagabend teilte der Condé-Nast-Verlag in New York mit, dass sich ­Anna Wintour nach 37 Jahren als Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“ zurückzieht; als „Global Chief Content Officer“ und „Global Editorial Director“ wird die Fünfundsiebzigjährige dem Verlag erhalten bleiben. Und wenn nun überall das Loblied auf die unterkühlte Chefredakteurin gesungen wird, dann wird verdächtig oft an ihr erstes Cover erinnert, das mit der Jeans und auch mit der Marke der Jeans die Welt der „high fashion“ provozierte. Zum Bild der wichtigsten Frau in der Modebranche, die viele Karrieren beförderte, gehört eben auch, dass der gestalterische Ehrgeiz in den vergangenen Jahrzehnten langsam verloren ging.

Die Schule war ihr ziemlich egal

Anna Wintour, am 3. November 1949 in London geboren, wurde 39 Jahre alt, als sie bei der „Vogue“ auf die Chefposition kam. Die Britin war in einer rebellischen Zeit groß geworden. In der Schule, so hat es ihre Biographin Amy Odell beschrieben, fälschte sie mit einer Freundin zuweilen Atteste, dann zogen sich die beiden auf einer öffentlichen Toilette die verhassten Schuluniformen aus und einen Minirock an, um am Leicester Square einkaufen zu gehen. Die Schule war ihr ziemlich egal, nach Oxford oder Cambridge wollte sie nicht – lieber verkaufte sie Mode in Trendboutiquen und bei Harrods. Aber diszipliniert war sie von Anfang an: Im Club, so schreibt Odell, ging es nicht ums Ausflippen, sondern ums Auskundschaften.

Seltener Anblick: Anna Wintour bei einer Schau von Tory Burch im September 2009 in New York
Seltener Anblick: Anna Wintour bei einer Schau von Tory Burch im September 2009 in New YorkHelmut Fricke

Der Esprit der Britin, die als Redakteurin von „Harper’s Bazaar“ schon viele Kontakte zu Fotografen und Stylisten aufgebaut hatte und nun die saturierte Ostküsten-Leserin aufwecken wollte, ist in den Neunzigern auf jeder Seite zu spüren. Als ihr ein Geschäftsmann im Flugzeug sagte, die „Vogue“, das seien für ihn ­Audrey Hepburn oder Grace Kelly, aber niemals Madonna, setzte sie im Mai 1989 gleich mal Madonna auf den Titel. Da war sie wieder dem Trend voraus, denn die Mode entdeckte den Film und die Pop­musik. Bei ihr tauchte Madonna aus einem Pool auf und futterte Popcorn.

Viele Designer verdanken ihr alles

Natürlich verhalf sie den Supermodels zu ihrem Superstatus, natürlich brachte sie im Heft brav alle Marken von Chanel bis Dior, von Armani bis Prada, von Ralph Lauren bis Burberry unter. Aber sie entdeckte auch Designer, die kaum jemand kannte oder wollte: Ganze zwölf Seiten widmete sie der Mode des so wankelmütigen wie begabten John Galliano – die man nirgends kaufen konnte, weil er noch gar nichts produzierte. Viele Karrieren ­britischer und amerikanischer Designer wären ohne sie kaum denkbar: John Galliano für Dior, Marc Jacobs für Louis Vuitton, Stella McCartney für Chloé, Alexander McQueen für Givenchy – Mitte der Neunziger machte sich in Paris die Angst vor Überfremdung breit. Die Reihe lässt sich bis heute fortsetzen: Auch Jack McCollough und Lazaro Hernandez, die nun Kreativdirektoren der Trendmarke Loewe werden, verdanken ihr alles.

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Über die Jahre baute sie sich auch den Ruf der eiskalten „Nuclear Wintour“ auf, die ihre Gefühle hinter dem betonierten Bob und der großen Sonnenbrille verbirgt. Im Film „Der Teufel trägt Prada“ (2006) bringt Meryl Streep den unerbittlichen Sound gut rüber. Im Dokumentarfilm „The September Issue“ (2009), der Anna Wintour bei der Produktion der Ausgabe vom September 2007 zusieht, wird offenbart, wie unglaublich sicher und schnell sie am laufenden Band Stil-Urteile fällt.

Aber die Dämmerung des Printzeitalters konnte die mächtigste Frau am Ende doch nicht aufhalten. Die Ausgabe vom September 2012 annoncierte auf dem ­Lady-Gaga-Titel sagenhafte „916 pages of spectacular fall fashion for all“. Das Editorial begann auf Seite 264, bis dahin waren nur Anzeigen zu sehen. Aber das Internet ließ die Umfänge und die Umsätze in den folgenden Jahren so schnell schrumpfen, als hätte die dickste Modezeitschrift der Welt Ozempic verabreicht bekommen.

Seit der Jahrtausendwende kamen Gerüchte auf, die Chefredakteurin könnte ersetzt werden. Bizarr, dass sogar Carine Roit­feld als mögliche Nachfolgerin in Stellung gebracht wurde. Dabei hatte niemand ein solches Gespür für die amerikanische Leserin, für die Nöte der Designer, für die Stärken (und Schwächen) von Fotografen und die Ansprüche der Anzeigenkunden. Es wird dem Verlag schwerfallen, einen Nachfolger zu finden, der ihre Rolle ausfüllt – erst recht, weil er oder sie nur noch den geschrumpften Titel „Head of Editorial Content“ tragen darf.