Packungsbeilagen von Medikamenten: Lesen kann Leben retten – Wirtschaft

„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihre Ärztin, Ihren Arzt oder in Ihrer Apotheke.“ Diese Fassung des mehr als drei Jahrzehnte alten Hinweises ist recht neu, gegendert wird zum Nachteil von Apothekern und Apothekerinnen erst seit Ende 2023. In rekordverdächtigem Tempo ist er nach jedem Werbespot zu lesen und zu hören. Geworben wird zielgruppen- und saisongerecht zwischen Magazinen über das Leben von Armen, Mittelreichen und Reichen ständig. Da ein Mittel gegen Schwindel, hier ein paar Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel, da eine Creme gegen das Zwicken im Knie. Das sind alles frei verkäufliche Produkte, für Medikamente auf Rezept darf nicht geworben werden.

So oder so. In jeder Packung steckt ein akkurat gefalteter Zettel, der einige im Extremfall lebenswichtige Hinweise enthält, etwa zu Dosierung und Nebenwirkungen, zu deren Verständnis ein Studium der Medizin oder Pharmazie erheblich beitragen würde. Alternativ helfen Dr. Google & Kolleginnen. Nur ein Beispiel: Laut Beipackzettel kann die Einnahme des verschreibungspflichtigen Schmerzmittels Novaminsulfon Lichtenstein zu Hautreaktionen wie dem Stevens-Johnson-Syndrom oder toxischer epidermaler Nekrolyse führen, zu Agranulozytose und Asthmaanfällen. Wie oft das passiert – gelegentlich, selten oder sehr selten – ist auch vermerkt.

Lesen kann Leben retten. Aber ein Lesevergnügen sind solche Schriftstücke nicht, weshalb das Kleingedruckte häufig nicht beachtet wird. Es braucht dazu keine Studie, es genügt eine kritische Selbstbetrachtung. Die Versandhändler Mycare.de hat sich die Packungsbeilagen von 50 Medikamenten angesehen, die ihm zufolge 2022 gemessen an den Tagesdosen in Deutschland am häufigsten verschrieben wurden, und den Lesbarkeitsindex LIX ermittelt. Dabei wird auf Basis von Wort- und Satzlängen der sprachliche Schwierigkeitsgrad ermittelt. Texte mit einem Wert unter 30 gelten als sehr leicht, heißt es unter anderem auf der Internetseite des Berliner Schulportals. Der Wert für Belletristik liegt durchschnittlich bei 40 bis 50, Sachbücher gelten mit einem Wert von 50 bis 60 als schwierig, Fachbücher mit mehr als 60 als sprachlich sehr schwierig.

Im Durchschnitt lag der Wert für die Packungsbeilagen laut der Mitteilung von Mycare.de bei 47,04. Sprachlich schnitt den Berechnungen zufolge mit einem LIX von 53,68 das Schmerzmittel Ibu-Lysin der Firma Ratiopharm am schlechtesten ab: 4093 Wörter und 503 Sätze. Auf den niedrigsten Wert, also sprachlich am verständlichsten, brachte es das zur Behandlung erhöhter Harnsäurewerte eingesetzte Allopurinol vom indischen Anbieter Indoco: LIX 41,41, 2159 Wörter und 461 Sätze. Kurze Wörter, nur knapp 37 Prozent der Wörter hatten mehr als sechs Buchstaben. Beim Ibu-Lysin waren es rund 46 Prozent. Die Texte der Beipackzettel seien „sprachlich komplex, schwer zugänglich und für Laien oft nur schwer verständlich“, heißt es bei Mycare.de. „Vielen Patienten wäre bereits geholfen, wenn die Schrift größer wäre oder es farbliche Hervorhebungen gäbe“, wird Martin Schulze zitiert, er ist Apotheker und Leiter der pharmazeutischen Kundenberatung von Mycare.de.

Für Poesie lassen Beipackzettel wenig Raum. Wie eine Packungsbeilage aussehen und was drinstehen muss, ist in der EU-Richtlinie 2001/83/EG geregelt, die mit Paragraf 11 des Arzneimittelgesetzes in nationales Recht umgesetzt wurde. Es ist ein umfangreicher Aufgabenkatalog. Angegeben werden müssen zum Beispiel der Name des Medikamentes, Name und Anschrift der Pharmafirma, Dosierung, Nebenwirkungen und der Aufruf, bei einem Verdacht, dies dem Arzt, der Apothekerin zu melden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) führt eine Meldeseite für Nebenwirkungen. Das Bfarm ist unter anderem für die Zulassung von Medikamenten zuständig. Es gibt eine Reihe von Leitlinien, wie die EU-Richtlinie umzusetzen ist, auch einen Leitfaden zur Lesbarkeit. Der Lesbarkeitsindex für die Leitfäden liegt nicht vor.