
Es begann mit „Awesome Tapes from Africa“, dem Blog des New Yorker Musikethnologen Brian Shimkovitz. Anfang der Nullerjahre ins Leben gerufen, lud Shimkovitz hier jene Kassetten als Soundfiles hoch, die er auf seinen Reisen durch Afrika, insbesondere im Westen des Kontinents, auf Märkten oder an Kiosken erwarb und dann digitalisierte.
Kurze Kontextualisierungen zu den Fundorten und Recherchen zu den oft unbekannten Künstler*innen rundeten diese Einträge ab. Im Rest der Welt, der sonst niemals in den Genuss dieser vielfältigen Formen malischer Volksmusik, ghanaischen High-Life-Sounds oder amharisch-äthiopischer Krar-Musik gekommen wäre, dankte es Shimkovitz Jahre später mit DJ-Sets auf allen Kontinenten, Internet-Fame und schließlich auch dem unvermeidlichen Vorwurf von Cultural Appropiation.
Gleichzeitig entstanden einstweilen weitere Labels, etwa Samy Ben Redjebs Analog Africa, das sich ebenso zur Bewahrung und Aufarbeitung der Musik des afrikanischen Kontinents verpflichtet sah. Rund um das Jahr 2010 konnte man wöchentlich drei bis fünf hochklassige Alben mit Musik aus Simbabwe, den Kapverden oder Angola erwerben. So weit, so bekannt – und immer in die Vergangenheit blickend.
Kopfstarke Soundsignaturen
Für den Produzenten Mark Ernestus, der mit Basic Channel und Rhythm & Sound – im Tandem mit Moritz von Oswald – bereits in den 1990ern eigenständige Signaturen von Techno und Dubtechno in Berlin erfand, war das nicht genug.
Mark Ernestus’ Ndagga Rhythm Force: „Khadim“ (Ndagga/Hardwax)
Live: 29. 6. 2025 Fusion Festival, Lärz; 5. 7. 2025 Good Good Festival, Göttingen; 11. 7. 2025 Umschlagplatz, Dortmund; 12. 7. 2025 Festival, Puch, wird fortgesetzt
Ernestus, der nebenbei noch den renommierten Plattenladen Hard Wax in der Hauptstadt aufgebaut hat, interessierte sich für die polyrhythmische Struktur des Mbalax, flog nach Gambia und in den Senegal und lernte dort lokale Musiker*innen kennen.
Ein Label namens Ndagga wurde gegründet und zwei Alben des 20-köpfigen Ensembles Jeri-Jeri brachten Club-Interessierten zum Tanzen: Zu handgemachten Beats, getragen von zigfachen Händen, die auf Sabartrommeln klopfen, von angeschlagenen Gitarrensaiten und von den – Achtung Händlersprech – „antiken, futuristischen Polyrhythmen“.
Hypnotische Stimme
Passte alles, stimmte auch und Ernestus’ Einfluss erschöpfte sich zunächst im Bedienen des Mischpults. Das Projekt endete etwa 2014, an seine Stelle trat dann die Ndagga Rhythm Force. Sie trägt den Fingerabdruck von Ernestus deutlicher, jedoch weiterhin ganz unverbindlich. Mittelpunkt der Ndagga Rhythm Force ist nicht mehr das markante Sabartrommel-Setup, sondern die hypnotische Stimme der in Wolof singenden Mbene Diatta Seck.
Sie tritt hier als Griot auf, als Geschichtenerzählerin, deren Entstehung im Senegal zwar auf uralten Traditionen fußt, derweil stark mit der allmählichen Verbreitung des Sufismus verknüpft ist. Weisen, Moral, Ethik, Lehrstücke, die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten des Glaubens – Diatta Seck inszeniert das, trotz ihres Status als Mbalax-Diva, mit einer Intimität, der man sich kaum entziehen kann.
Neun Jahre nach „Yermande“, dem Debütalbum von Mark Ernestus’ Ndagga Rhythm Force, und ausgedehnten Touren durch Europa, macht die Crew einen signifikanten Schritt: Der vor Kurzem erschienene Zweitling „Khadim“ fasziniert nicht mehr durch das – lapidar ausgedrückt – exotische Moment glaubwürdiger, ungelenkter Volksmusik; „Khadim“ ist vielmehr innovativ und zugleich weit ab von anbiederndem folkloristischem Afrikanischsein.
Prophet-5 aus dem Fuhrpark
Dafür machen Ernestus und seine nunmehr drei Mitstreiter*innen einen tiefen Tauchgang in die Reduktion. Es trommelt, klar, kommt aber mit deutlich weniger Tam-Tam-Rabba-Drab aus. Dafür übernimmt nun ein Prophet-5-Synthesizer aus dem Technofuhrpark die Leitung; es tanzt jetzt nicht mehr vor der Bühne, sondern in den Stücken selbst. Wobei: Zu diesen minimalistischen Séancen tanzen ohnehin nur hartgesottene Seelen oder bereits erlöste Gestalten, die mit geschlossenen Augen wummernde Bassfrequenzen empfangen.
Die Eindringlichkeit der leicht weggetretenen, dubunterlaufenen Zeilen Mbene Diatta Secks ist auf „Khadim“ kaum noch auszuhalten, und so singt sie: „Dieuw bakhul, dieuw ñaw na“, was mit „Eine Lüge ist nie gut, eine Lüge ist dreckig“ übersetzt werden kann. Doch man meint auch ohne Übersetzungshilfe zu verstehen, was dort in Wolof gepriesen wird.
Die deutsch-senegalesische Ndagga Rhythm Force ist kein Novelty-Projekt mehr, sondern hat einen einzigartig-schroffen düsteren Soundentwurf anzubieten, den sie hoffentlich nicht das letzte Mal in Form von vier Stücken präsentiert. Denn so futuristisch klingt der Sound Afrikas im 21. Jahrhundert wirklich.