Vorteil Pogacar vor dem Duell mit Vingegaard um den Toursieg

Stand: 25.06.2025 08:46 Uhr

Der slowenische Titelverteidiger Tadej Pogacar ist der Fünfsterne-Favorit des größten Radrennens der Welt. Sein dänischer Konkurrent Jonas Vingegaard setzt vor allem auf die langen Anstiege in den Alpen – doch das könnte zu wenig sein.

Das mittellateinische Substantiv „duellum“ bedeutet das, was nach Lange der Dinge auch in diesem Sommer bei der Tour de France zu erwarten ist: Zweikampf. Gemeint ist damit allerdings im engeren Wortsinn eine freiwillige Auseinandersetzung mit gleichen, gleichwohl potenziell tödlichen Waffen, um Ehrenstreitigkeiten der beiden Kontrahenten auf archaischem Wege auszutragen. Tödlich sind die Attacken, die Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard sich im Rahmen ihres Duells beim größten Radrennen der Welt liefern dürften, selbstredend nicht. Allerdings hoffen die Organisatoren der Tour durchaus darauf, dass die beiden mit gleicher Power in ihren Zweikampf radeln.

Aktuell jedoch scheint der Slowene Pogacar, 26 Jahre jung, allen seinen Gegnern mit seiner ungezügelten Angriffslust und seiner imposanten Erfolgsliste von nunmehr bereits 99 Siegen in sechseinhalb World-Tour-Jahren bei seinem UAE-Team Emirates voraus zu sein. Dieses Frühjahr jedenfalls dominierte Pogacar, während sich Vingegaard, mittlerweile 28, deutlich mehr zurückhielt.

Das lag auch daran, dass der dänische Kapitän der niederländischen Auswahl Visma – Lease a bike im Verlauf der fünften Etappe von Paris-Nizza im März stürzte und eine Gehirnerschütterung davontrug, die ihm sehr zu schaffen machte. Vingegaard zeigte sich erst wieder bei der Dauphiné-Rundfahrt im Juni, bei der er unter anderem auf seinen ewigen Kontrahenten Pogacar traf – und ihm unterlag. Doch auch Vingegaard ist ein exzellenter Rundfahrer, in Bezug auf Siege bei der Tour steht es aus Sicht des Dänen 2:3. Kann er in diesem Jahr den großen Coup schaffen und auf 3:3 stellen? Oder geht Pogacar mit 4:2 in Führung? Eine Analyse.

Die Tour-Sieger der letzten fünf Jahre vor dem Start der Dauphiné-Rundfahrt

Ausgangslage

Pogacar reist als hochdekorierter Frühjahrs-Champion zur Tour. Von den bisher vier ausgetragenen Monumenten des Radsports gewann er zwei – die Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich, und zwar im klassischen Pogacar-Stil als weit enteilter Solist. Lediglich bei Mailand-San Remo (Platz drei für Pogacar) und seinem Profi-Debüt bei Paris-Roubaix (Rang zwei) unterlag er dem niederländischen Klassiker-Spezialisten Mathieu van der Poel. Bei der Dauphiné, einem wichtigen Formcheck vor der Tour, verblüffte Pogacar mit drei Tagessiegen und dem deutlichen Gesamtsieg vor Vingegaard.

Der Däne wiederum gewann im Februar die Algarve-Rundfahrt, ehe er bei Paris-Nizza aufgeben musste. Bei der Dauphiné belegte er bei vier von acht Etappen Rang zwei, dreimal hinter seiner Nemesis Pogacar. So war es auch in der Endabrechnung der stark besetzten Rundfahrt.

Fazit: Vorteil Pogacar.

Pogacar und Vingegaard bei der Dauphiné-Rundfahrt

Aktuelle Form

Bei der Dauphiné überzeugte Pogacar als Maschine in den Bergen und sogar als Sprinter auf dem ersten Teilstück. Die Initiative ging zuvor beim letzten Anstieg jedoch von Vingegaard aus, doch Pogacar konnte diesen Vorstoß kontern. Allerdings offenbarte Pogacar in der Auvergne überraschend Schwächen in dem 17,4 Kilometer kurzen, hügeligen Zeitfahren der Dauphiné. Das gewann der Belgier Remco Evenepoel, auch er ist im Stauts eines Geheimfavoriten ein Anwärter auf den Tour-Erfolg. Evenepoel war 20 Sekunden schneller als Vingegaard. Der Tagesvierte Pogacar war 48 Sekunden langsamer als Evenepoel.

Dieser Abstand überraschte Pogacar sehr, er betonte anschließend, dass er in der verbleidenden Zeit bis zum Tourstart seinen Rückstand im Kampf gegen die Uhr analysieren und sich ein paar zusätzliche Zeitfahr-Einheiten zumuten werde. Und dennoch: Vor allem bei den drei Bergetappen am finalen Dauphiné-Wochenende überzeugte Pogacar als eiskalter Angreifer, dem auch Vingegaard nicht folgen konnte.

Der Sportschau sagte Pogacar am vorletzten Tag der Dauphiné: „Es dürfte für mich schwer werden, noch besser zu klettern als bei diesem Rennen. Wenn meine Form so bleibt, bin ich bestens vorbereitet.“  

Pogacar nach seinem Sieg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich

Auch Vingegaards Dauphiné-Fazit fällt positiv aus. Der Sportschau sagte er: „Ich kann sehr glücklich über meine Leistung sein. Tadej war zurzeit einfach noch stärker als ich. Meine Wattwerte aber waren überzeugend. Ich bleibe deshalb ruhig, weil ich weiß, dass mich dieses Rennen hier besser macht. Es diente mir als Training für die Tour.“

Fazit: Vorteil Pogacar.

Die Strecke

Diese Tour de France beginnt scheinbar moderat, doch sie verfügt auf den ersten neun Etappen in Frankreichs Norden über bewusst in den Parcours integrierte Fallen in Form von giftigen Anstiegen im Finale. Die Favoriten werden dort sehr aufmerksam sein müssen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der hyperaktive Pogacar sich in den ersten Tour-Tagen ein paar Attacken gönnen wird. Die 10. Etappe führt durch das französische Vulkanland, im Zentralmassiv wird sich erstmals zeigen, wie gut die Form der Duellanten Pogacar und Vingegaard bei der Tour wirklich ist.

Bei ganz langen und steilen Anstiegen jedoch zeigte Vingegaard bei seinen Toursiegen 2022 und 2023, dass er Pogacar bezwingen kann. Diesmal sind vier solcher Etappen in die zweite Tourhälfte integriert. Eine davon führt auf den Mont Ventoux, eine weitere durch die Pyrenäen, sie endet in Superbagnères und weist 5.048 Höhenmeter auf. Am viert- und fünftletzten Tag der Tour stehen in den Alpen zwei weitere heftige Prüfungen an – die Bergankünfte auf dem gewaltigen Col de la Loze und in La Plagne. An zwei Tagen hintereinander müssen die Tour-Teilnehmer zunächst fast 5.800 und danach noch mal gut 4.800 Höhenmeter absolvieren.

Fazit: Vorteil Vingegaard

Die Strecke der Tour de France 2025

Fahrertypen

Pogacar ist ein Instinktfahrer, der von Vorgaben seiner Teamleitung nicht viel hält. Vielmehr fährt er nach Gefühl und entscheidet sich, der ewigen Referenzgröße Eddy Merckx nicht unähnlich, weit vor dem Ziel zu Attacken. Die sind meist so famos austariert, dass kaum jemand folgen kann. Bei der Flandern-Rundfahrt, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich oder bei der Dauphiné war das in diesem Jahr erneut zu beobachten. Aber auch beim Giro d’Italia und der Tour im Vorjahr. Dort gewann Pogacar jeweils die Gesamtwertung und sechs Etappen.

Vingegaard hingegen ist ein kühler Kalkulator, der sich an den Erkenntnissen der Trainingswissenschaft orientiert und der sich dem Rat seiner Trainer anvertraut. Waghalsige Angriffe wird Vingegaard nicht riskieren, das verbietet ihm sein zurückhaltendes Naturell und seine Orientierung an die für ihn auferlegten Programme in den Rennen. Sein Visma-Team gilt als Avantgarde der Trainings- und Ernährungssteuerung, Vingegaard ist der Musterschüler dieses Konzepts.

Vingegaard bei der Tour-Generalprobe

Doch Pogacars Weg erwies sich zuletzt als der erfolgreichere. Sein Mut führte ihn zu seinen Tour-Triumphen in den Jahren 2020, 2021 und 2024.

Fazit: Vorteil Pogacar.

Psychologie

Pogacar ist auf dem Weg, einer der ikonischsten Fahrer der Radsport-Geschichte zu werden. Er liest Rennen anders als seine Konkurrenten, er ist der wohl offensivste Sieganwärter des Pelotons. Seine Devise ist: Lieber alles versuchen, als hinterher sowieso geschlagen zu werden.

Vingegaard hingegen ist deutlich defensiver in seinem gesamten Auftreten. Er mag es, abgeschirmt zu werden und zurückhaltend aufzutreten. Große Sprüche, Ankündigungen oder waghalsige Manöver in den Rennen sind ihm fremd. Bisweilen fehlt ihm diesbezüglich eine Prise Pogacar.

Fazit: Vorteil Pogacar.

Mannschaft

Bei Vingegaards Tour-Erfolgen galt die kühl kalkulierende, mit herausragenden Fahrern besetzte Visma-Équipe als die Topmannschaft des Feldes. Vingegaard wurde unter anderem von Primoz Roglic, Sepp Kuss und Wout van Aert unterstützt. Inzwischen ersetzt Giro-Sieger Simon Yates den zu Red Bull-Bora-hansgrohe abgewanderten Roglic. Diese Kombination repräsentiert absolute Weltklasse.

Mittlerweile jedoch hat das UAE-Team nicht nur zu den Niederländern aufgeschlossen, sondern sie in Bezug auf Pogacars Berg- und Helferflotte sogar übertrumpft. Joao Almeida, Juan Ayuso, Adam Yates, der Zwillingsbruder des Giro-Siegers, Pavel Sivakov und zudem die tempoharten Nils Politt und Tim Wellens sind als Helfer die derzeit gefragtesten Namen in der Welt des Radsports. In der Summe ist dieses Aufgebot das derzeit wohl beste des Feldes.

Fazit: Vorteil Pogacar.

Vorhersage

Vor allem seine aktuell herausragende Form, sein Gespür, sein Rennverständnis und seine Lust auf Angriff sprechen vor dieser Tour eindeutig für Pogacar. Vingegaard wird alles auf die Alpen setzen. Das könnte zu wenig sein, zumal Pogacar auch dort gewiss nicht um Antworten verlegen sein wird.