
Es gehört zu den Besonderheiten der kurzen und knackigen Rasentennissaison, dass sich alle Spielerinnen ständig über den Weg laufen. Wer sich in der vorvergangenen Woche im Londoner Queen’s Club auf dem Platz begegnete, stand sich womöglich ein paar Tage später schon wieder auf dem Centre Court von Berlin gegenüber. Von der Hauptstadt zog der Tennistross nach und nach weiter nach Bad Homburg, wo eine Spielerin bei der Platzwahl im Kurpark oft wieder in das selbe Gesicht blickte wie ein paar Tage zuvor im Grunewald. In der fünfwöchigen Rasensaison geht’s zu wie beim Schwank vom Hase und dem Igel: Wenn eine Spielerin eher später als früher bei einem Turnier ankommt, sind viele der üblichen Konkurrentinnen schon da und warten.
Es liegt in der Natur der sportlichen Wettbewerbe, dass das Wiedersehen nicht immer Freude macht. Mitunter würde man sich lieber aus dem Weg gehen, ist zumindest nicht erpicht darauf, an verschiedenen Orten gegen ein und dieselbe Gegnerin zu spielen. Tatjana Maria zum Beispiel ist so eine, der man auf Rasen lieber nicht begegnet. Das ist der Bad Saulgauerin, die mit ihrem Mann und Trainer Charles-Edouard und den Töchtern Charlotte (elf Jahre) und Cecilia (vier Jahre) in Florida wohnt und derzeit die Europatour auf Rasen in vollen Zügen genießt, natürlich bewusst. „Ich weiß, dass ich keine Lieblingsgegnerin bin“, sagte die 37 Jahre alte Maria in Bad Homburg: „Aber es kommt keine zu mir und sagt: ‚Du nervst mich tierisch!’“
Es ist immer dasselbe, das die jüngeren Konkurrentinnen zur Verzweiflung treibt: Marias Art, so gut wie jeden Ball unterschnitten zu spielen. Damit hat die Deutsche auf Hardcourts und auf Sandplätzen nur leidlich Erfolg, auf Rasen aber umso mehr. In Wimbledon erreichte sie 2022 das Halbfinale, und vor neun Tagen gewann sie den größten Titel ihrer langen Karriere: Im Londoner Queen’s Club schlug sie reihenweise Weltklassespielerinnen, angefangen von der Kanadierin Leylah Fernandez über Jelena Rybakina, immerhin die Wimbledonsiegerin 2022, und die Australian-Open-Gewinnerin Madison Keys bis hin zu Amanda Anisimova im Finale.
Kein Wetter für Maria
Unmittelbar vor ihrem Durchmarsch auf dem Londoner Rasen hatte die Deutsche neun Matches nacheinander verloren. „In meinem Team und meiner Familie haben wir immer geglaubt, dass ich noch etwas Großes leisten kann“, sagte Maria in Bad Homburg, „auch wenn ich von außerhalb in den letzten Jahren ein bisschen abgeschrieben wurde.“ Nun ist sie die erste Siegerin im Queen’s Club seit 1973, als Frauen dort letztmals ein Turnier spielten. „Ich bin Queen, das kann mir keiner nehmen.“

Womit wir bei dem kleinen Dämpfer für Tatjana Marias Leidenschaft für Rasentennis wären. Wie eineinhalb Wochen zuvor in Kensington, so traf sie auch im Kurpark in der ersten Runde auf die Kanadierin Fernandez. Der Unterschied: Am Sonntag bei rund 35 Grad Celsius Lufttemperatur verließ Maria den Centre Court als Verliererin. 0:6, 6:7 (1:7) unterlag sie der 15 Jahre jüngeren Kanadierin. Als sich Maria die Chance bot, das Erstrundenmatch zu drehen, vergab sie einen Satzball. „Heute waren komplett andere Voraussetzungen als in London: Es war super heiß, die Bälle sind höher geflogen, was nicht zu meinem Vorteil war.“
Man kennt sich
Fernandez hatte sich seit dem vorherigen Aufeinandertreffen besser auf Marias verzwickte Spielweise eingestellt. Damit war sie vielen Kolleginnen voraus, die es an den ersten Bad Hamburger Turniertagen auch mit Gegnerinnen zu tun bekamen, denen sie schon in der vergangenen Woche in Berlin unterlegen waren: Die Ukrainerin Marta Kostyuk verlor am Sonntag in der gleichen Runde abermals in zwei Sätzen gegen die US-Amerikanerin Emma Navarro. Die Kroatin Donna Vekic spielte am Montag schon wieder gegen die Russin Diana Schnaider, der sie nicht nur in Berlin, sondern auch beim Bad Homburger Finale des Vorjahres unterlegen war. Besser macht’s vielleicht die an Position drei gesetzte Russin Mirra Andrejewa, die ihr erstes Match im Kurpark gegen die Polin Magdalena Frech bestreitet – wie zuletzt in Berlin.
Für Tatjana Maria beeinflusst so ein schnelles Wiedersehen das Geschehen auf dem Platz: „Man kennt sich besser, man weiß, was auf einen zukommt“, sagte sie bei den Bad Homburg Open, wo sie Fernandez im vierten Duell zum ersten Mal unterlag: „Sie konnte frei drauflos spielen.“ Vielleicht sehen sich die beiden schon in der kommenden Woche auf einem Wimbledon-Court wieder, ist die 45. der Weltrangliste anders als Fernandez doch bei ihrer 15. Teilnahme ungesetzt. Egal. „Ich liebe Wimbledon!“, sagte Tatjana Maria vor der Abreise.