
Sonntagnacht dröhnte in dem slowakischen Städtchen Dunajská Streda der 40 Jahre alte und zur inoffiziellen Nationalmannschaftshymne erklärte Peter-Schilling-Hit „Major Tom“ aus den Stadion-Lautsprechern. Das war den Fußballern der deutschen U21-Mannschaft zu verdanken. Allerdings wäre noch zu klären, ob die Einwohner von Dunajská Streda, 40 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Bratislava, nachts um halb zwölf überhaupt wissen wollten, geschweige denn zu schätzen wussten, dass da Touristen aus Deutschland völlig losgelöst waren. In dem bis Mitternacht flutlichthellen örtlichen Stadion sah man deutsche Nationalspieler in großer Erleichterung, von körperlicher Schwerelosigkeit aber waren sie nach mehr als 120 Minuten aufreibendem Fußball weit entfernt.
„Ich bin am Anschlag“, seufzte der Gladbacher Mittelfeldspieler Rocco Reitz, und sein Kölner Nebenmann Eric Martel gestand: „Ich bin mausetot.“ Auch der Trainer Antonio Di Salvo war beim Schlusspfiff in seinen Trainersessel geplumpst, als plage ihn ein mittelschwerer Kreislaufkollaps. Die deutschen U21-Fußballer sind durch ein nervenaufreibendes 3:2-Verlängerungsdrama gegen Italien ins Halbfinale der Europameisterschaft eingezogen. Zu diesem Zweck reisen sie einmal komplett durchs ganze Land nach Kosice und treffen dort am Mittwochabend auf Frankreich (21 Uhr, Sat 1). Das deutsche Ziel lautet, dass die slowakischen EM-Gastgeber auch dort hinterher den alten Hit einspielen. Dann wollen sie nämlich wieder zurückzureisen nach Bratislava, wo am Samstagabend das Endspiel stattfindet gegen England oder die Niederlande.
Das Drama gegen Italien hat das Zeug zum U21-Klassiker, weil es eine Pointe an die nächste reihte. Nach drei Siegen in der Gruppenphase mit jeweils einer 2:0-Führung schon zur Pause geriet das deutsche Team diesmal erstmals in Rückstand (58. Minute) und erhielt die pädagogisch wertvolle Gelegenheit zu zeigen, dass es auch solch herausfordernde Konstellationen zu meistern versteht. Der Stuttgarter Nick Woltemade (1:1, 68.) mit seinem fünften Turniertreffer und der Mainzer Nelson Weiper (2:1, 87.) mit seinem zweiten drehten das Spiel. Deutschland sah in der vierten Minute der auf vier Minuten angelegten Nachspielzeit bereits wie der sichere Sieger aus, als ein völlig unnötiger Fehlpass und ein unüberlegtes Foul 18 Meter vor dem eigenen Tor den Italienern eine Freistoßchance eröffneten. Giuseppe Ambrosini nutze sie in der sechsten Minute der Nachspielzeit doch tatsächlich zum 2:2-Ausgleich.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings befand sich die italienische Mannschaft nach zwei Platzverweisen bereits in doppelter Unterzahl, und es wäre für das deutsche Team geradezu tragisch gewesen, hätte es diesen personellen Vorteil über 30 Verlängerungsminuten hinweg nicht zum Sieg genutzt. Die DFB-Elf ließ sich damit allerdings (unfreiwillig) Zeit bis drei Minuten vor dem Ablauf. Dann verlor der Freiburger Merlin Röhl die Geduld und schoss in der 117. Minute trocken zum 3:2-Siegtreffer ein mit einem Fuß, der ihn in der Vorwoche noch stark geschmerzt hatte, die beiden Auftaktspiele verpassen ließ und um ein Haar zur Abreise aus dem deutschen U21-EM-Lager gezwungen hätte.
Italiens Nationaltrainer Gattuso ist im Stadion, Julian Nagelsmann nicht
„Ich bin froh, dass ich bleiben konnte und niemand für mich nachnominiert worden ist“, sagte Röhl am Sonntag. Das deutsche Versorgungsteam sowie der eigens aus Freiburg angereiste Klubarzt hatten sich derart fürsorglich um Röhls rechten Fuß gekümmert, als hätten sie geahnt, das genau dieser Fuß für das sportliche Schicksal der deutschen U21 noch bedeutungsvoll werden würde. Als einziger der vier Vorrunden-Gruppensieger haben es die Deutschen ins Halbfinale geschafft. Spanien, Portugal, Dänemark – alle raus.
Nach dem blamablen Gruppen-Aus mit nur einem Punkt aus drei Spielen bei der EM in Georgien vor zwei Jahren ist die deutsche U21 in ihre historische Erfolgsspur zurückgekehrt und hat zum fünften Mal binnen sechs EM-Endrunden das Halbfinale erreicht. 2015 unter dem Trainer Horst Hrubesch, 2017 bis 2021 dreimal nacheinander unter Stefan Kuntz und nun bei seiner zweiten EM als Chefcoach erstmals auch unter Di Salvo steht die älteste Nachwuchsmannschaft unter den besten vier europäischen Nationen. Unter Kuntz stand sie dreimal sogar im Endspiel und gewann 2017 und 2021 den Titel.
Völler stellt eine Anreise von Nagelsmann in Aussicht
Weil die U21 als perspektivischer Signalgeber und Zulieferbetrieb für die A-Nationalmannschaft gilt, ist sie auch für den Bundestrainer Julian Nagelsmann von besonderer Relevanz. Das warf Mittwochabend in Dunajská Streda die Frage auf, warum Nagelsmann auch zum vierten Turnierspiel eigentlich nicht in der Slowakei aufgetaucht war. Der neue italienische Nationaltrainer Gennaro Gattuso war im Stadion, der deutsche Sportdirektor Rudi Völler war im Stadion – nicht aber Nagelsmann.
Völler verteidigte den Bundestrainer vor der Partie im Interview bei Sat 1. „Er hat alle deutschen Spiele gesehen“, sagte Völler beschwichtigend, „und sollten wir ganz am Ende noch dabei sein, dann, sagt mir mein Gefühl, kommt er.“ Sollte sich Nagelsmann freilich nur für ein deutsches Endspiel in die Slowakei bemühen wollen, erschiene das betrüblich.
Vielleicht spornt aber auch genau dieser auf einem Belohnungsprinzip basierende Umstand die deutschen Talente weiter an. Schließlich träumen sie alle irgendwann von einer Berufung in die Nationalmannschaft. So viel ist klar: Würden sie vor den Augen des Bundestrainers am kommenden Samstag Europameister, dann wären die deutschen U21-Fußballer ganz sicher endgültig: völlig losgelöst.