Giorgio Poi singt auf „Schegge“ von Glück und Melancholie

„Ich wollte“, hat der italienische Popsänger Giorgio Poi vor Kurzem in einem Interview über seine neue Platte „Schegge“ gesagt, „dieses seltsame Gefühl der Melancholie erforschen, das sich einstellen kann, wenn man einen glücklichen Moment erlebt.“ Und hört man die neun Songs von „Schegge“, und hört man sie vor allem, ohne ein Wort der Sprache zu verstehen, in der sie gesungen sind: Dann fühlt es sich fast so an, als hätte Poi ihr Geheimnis entzaubert, indem er so genau über den Effekt spricht, den sie auslösen.

Man begreift einfach nicht genau, warum man bei Liedern wie „Nelle tue piscine“ so traurig wird, obwohl sie so schön sind. Und würde viel lieber noch etwas länger denken, dass es an einer ganz persönlichen und eigenen Erfahrung liegen muss, die sie wachrufen. Aber Giorgio Poi, und daran erkennt man den Erzähler im Popstar, gelingt es einfach, ein Gefühl in einen Sound zu verwandeln, der ganz vielen auf einmal das Gefühl gibt, nur sie allein seien hier gemeint.

Unter dem Einfluss von Phoenix

Ein Popstar ist dieser Giorgio Poi aber bislang vor allem in Italien, und selbst dort nur in der alternativen Musikszene. In Deutschland ist er fast unbekannt. Poi ist in Rom aufgewachsen, dann nach London gezogen, dort hat er lange gelebt und seine erste Band gegründet, bevor er, wie viele italienische Künstlerinnen und Künstler seiner Generation, auch ein paar Jahre in Berlin verbracht hat.

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Inzwischen ist Poi 39 Jahre alt – und über die Zwischenstation Bologna nach Rom zurückgekehrt. Wie er auch einmal gesagt hat, ist Rom die Stadt, die es ihm ermöglicht hat, das zu tun, was er tut. In Rom hat Poi dann auch zwischen Dezember 2022 und Oktober 2024 die neun Lieder von „Schegge“ aufgenommen. Geholfen hat ihm dabei sein Freund Laurent Brancowitz, der Bassist von Phoenix – jener französischen Band, die es schafft, zum Gefühl, melancholisch und glücklich zugleich zu sein, tanzen zu wollen. (Zuletzt konnte man das bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Paris erleben.)

Man hört den Einfluss von Phoenix auf „Schegge“ deutlich: in den Keyboardmelodien (wie bei „Delle barche e i transatlantici“) oder den Refrains (wie dem schon erwähnten „Nelle tue piscine“ oder bei „Les jeux sont faits“, dem Hit der Platte). Sie haben immer etwas von europäischer Vorabendserie 1987, der Sound ist alt, das Gefühl ist es nie geworden. „Schegge“, das heißt so viel wie Splitter, und so, wie Giorgio Poi klingt, wenn er davon erzählt, steckt dahinter auch das atomisierte, brüchig gewordene Leben, das er in den letzten Jahren lebte: der Zusammenhang zerstört, die Erinnerungen Stück für Stück zusammengefügt zu einem Bild: das Porträt eines Mannes, der sich an die Momente zurück singt, in denen geschah, was ihn prägte.

Eine tiefere Leidenschaft für den Pop, seine Stimmen und Stile

Die musikalischen Einflüsse Pois reichen zurück bis zu den Pixies, zur Reggae-Legende Lee „Scratch“ Perry, zu Leonard Cohen, und das verbindet ihn mit einer Band wie Phoenix, obwohl Poi auch mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitet: Dass es da eher um eine tiefere Leidenschaft für den Pop und seine Stimmen und Stile geht, aus denen dann aber doch nur Spurenelemente, Splitter tatsächlich in den Songs landen. Größere Splitter vielleicht von Cohen, was die Rolle des leise-eleganten Beobachters angeht, die Poi nicht nur in seinen Videos spielt. Definitiv kleinere, was den Reggae angeht, der, zumindest auf „Schegge“, so gut wie nirgendwo zu hören ist.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Zu den Fans von Giorgio Poi zählt auch die italienische Schriftstellerin Claudia Durastanti („Die Fremde“), die, als bei der vergangenen Frankfurter Buchmesse im Oktober 2024 der superitalophile Wagenbach-Verlag seinen 60. Geburtstag mit einer komplett überfüllten Party feierte, dafür gesorgt hat, dass auch ein Song von Giorgio Poi auf der Playlist landete: Das war „I pomeriggi“, der Hit seiner dritten Platte, „Gommapiuma“ von 2021, und deutlich tanzbarer als alles, was sich auf der vierten, neuen, jetzt findet.

Aber auch dieses Lied singt Poi in jener bittersüßen, sich selbst in vager Sehnsucht verzehrenden, leicht metallischen Stimme, irgendwo zwischen Junge und Mann. Vielleicht ist es auch genau diese Unbestimmtheit, dieses Dazwischen, dass den Reiz seiner Lieder ausmacht. Lieder von Versprechen, die gebrochen werden, noch bevor sie sich einlösen können, Lieder, die, und auch darin ist Giorgio Poi (zum letzten Mal, wirklich!) mit seinen Freunden von Phoenix verwandt, immer etwas mehr davon erzählen, dass die schönen Momente vorbei sind, und nicht, warum genau sie so schön waren. Das Geheimnis des Pops ist, sich nie entscheiden zu müssen, was besser ist: etwas erlebt zu haben oder davon singen zu können, immer wieder.

„Schegge“, Bomba Dischi – Puro Srl / Sony Italy