Comic von Friedrich Schiller: Der Klassiker steht kopf

Vor Kurzem hat, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, ein Jahrhundertprojekt seinen Abschluss gefunden: die historisch-kritische Ausgabe von „Schillers Werken“, die sogenannte Nationalausgabe. Begründet im Kriegsjahr 1940, hat sie die Germanistik nicht weniger als 84 Jahre lang beschäftigt. Jetzt ist der 43. und letzte Band erschienen – „Abschluss der Ausgabe“ steht in stolzen Majuskeln auf dem Schutzumschlag. Auch editionsgeschichtlich deutet sich damit das Ende einer Ära an: Die Nationalausgabe ist eine der letzten großen Werkausgaben der deutschen Literatur, die noch in einem ausschließlich analogen Format erscheint.

Dass dieser Abschluss eher im Stillen geschehen ist – selbst die germanistischen Fachzeitschriften haben bisher nicht darauf reagiert –, ist einerseits verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, welche Bedeutung der Nationalausgabe in der Vergangenheit beigemessen wurde und wie stark sie mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert verknüpft ist, nicht nur aufgrund ihrer Verstrickung in die nationalsozialistische Kulturpolitik. Ein Politikum war sie auch in der Zeit des Kalten Kriegs: Weil die wichtigsten Handschriften Schillers in Marbach und Weimar liegen, war eine Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten unumgänglich. Das allerdings war eine diplomatische Herausforderung – nachdem Willy Brandt die Nationalausgabe einmal im Bundestag erwähnt hatte, wäre die Arbeit in der DDR beinahe eingestellt worden.

Norbert Oellers als Vollender

Andererseits ist die geringe öffentliche Anteilnahme heute aber wohl auch bezeichnend: Das Werk Schillers, dem mit den 43 großformatigen und durchaus repräsentativen Bänden ein beeindruckendes Denkmal gesetzt wurde, hat im Vergleich zu früheren Jahrzehnten in der Gegenwart an Anziehungskraft verloren. Und auch das Fach, das ihm dieses Denkmal errichtet hat, spielt nicht mehr dieselbe Rolle wie in den Jahren, als der Bonner Großgermanist Benno von Wiese die Ausgabe trotz seiner nationalsozialistischen Vergangenheit gemeinsam mit Lieselotte Blumenthal in Weimar herausgab. Seit 1991 ist Norbert Oellers, der 1965 als Mitarbeiter in Bonn begonnen hatte, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar und des Schiller-Nationalmuseums Marbach alleiniger Herausgeber der Nationalausgabe: Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass sie jetzt vollendet ist.

Abguss des Schädels aus dem Sarkophag Schillers in der Fürstengruft neben Gesichtsrekonstruktion Schillers in der Ausstellung "Schillers Schädel in Weimar (2009)
Abguss des Schädels aus dem Sarkophag Schillers in der Fürstengruft neben Gesichtsrekonstruktion Schillers in der Ausstellung „Schillers Schädel in Weimar (2009)picture-alliance/ dpa

Aber nicht nur deshalb ist das Erscheinen des letzten Bandes ein Ereignis. Bemerkenswert ist auch, was er enthält. Zwar sind das, wie in einem solchen Fall unvermeidlich, „Korrekturen, Ergänzungen, Verzeichnisse“, und das auf nicht weniger als 800 Seiten. Doch davon sollte sich niemand abschrecken lassen, denn schon beim Blättern kann man hier die schönsten Funde machen. So etwa den Brief, den Schiller vermutlich im Dezember 1780 oder Januar 1781 an seinen ehemaligen Mitschüler Immanuel Gottlieb Elwert schrieb. Schiller war damals aus der Stuttgarter Karlsschule entlassen worden und unzufrieden mit dem Gehalt, das er als Regimentsmedikus erhielt. Von dem Brief ist nur ein einziger, noch dazu unvollständiger Satz überliefert. Doch er hat es in sich: „meine Knochen haben mir im Vertrauen gesagt, daß sie in Schwaben nicht verfaulen wollen.“

Tatsächlich sind Schillers Knochen nicht in Schwaben, sondern in Thüringen verfault – und zwar unter kuriosen Umständen: 1826, 21 Jahre nach Schillers Tod, machte sich der damalige Bürgermeister Weimars im Kassengewölbe auf dem Jacobsfriedhof, wo Schiller bestattet worden war, höchstpersönlich auf die Suche nach seinen sterblichen Überresten, um sie in ein Einzelgrab umzubetten, was sich aufgrund des fortgeschrittenen Verfalls allerdings als schwierig herausstellte. Immerhin fand sich ein geeigneter Schädel, den der Bürgermeister nach einer plötzlichen Eingebung auch als den Schillers erkannte. Wie der Germanist Albrecht Schöne in seiner einschlägigen Abhandlung „Schillers Schädel“ rekonstruiert hat, wurde dieser Schädel nach dem Modell des christlichen Heiligen- und Reliquienkults daraufhin in einem feierlichen Akt im Saal der Großherzoglichen Bibliothek an Goethes Sohn August übergeben. Goethe selbst hielt sich fern, ließ sich aber zu einem bedeutenden Gedicht inspirieren („Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute“).

Sein Sarg ist heute leer

In den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts stellte sich dann freilich heraus, dass Schillers Schädel in Wahrheit der eines Unbekannten war, was in der Öffentlichkeit für einige Unruhe sorgte. Auch die anderen Gebeine, die 1827 in die Weimarer Fürstengruft umgebettet worden waren, stammten nicht von Schiller, sodass sein Sarg heute leer ist. Welche Aufmerksamkeit seine Knochen einmal erregen würden, anstatt in Ruhe und fern der schwäbischen Heimat zu verfaulen, hätte sich Schiller, als er jenen Satz schrieb, gewiss nicht träumen lassen.

„Die verkehrte Welt“: In der Bildgeschichte, die Schiller mit Huber für Körner anfertigte, liest dieser seinem Vater ein ästhetisch-moralisches Collegium zu Schillers „Räubern“ vor (der Sohn mit Rute)
„Die verkehrte Welt“: In der Bildgeschichte, die Schiller mit Huber für Körner anfertigte, liest dieser seinem Vater ein ästhetisch-moralisches Collegium zu Schillers „Räubern“ vor (der Sohn mit Rute)Metzler Verlag

Während sich für eine in den bisherigen Ausgaben des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe nicht enthaltene separate Beischrift zu einem Brief an Goethe vorrangig Spezialisten interessieren dürften, könnte Schillers bis jetzt ebenfalls unbekannter Brief an den in Weimar lebenden Erfolgsschriftsteller Christian August Vulpius aus dem Juli oder August 1799 ein allgemeineres Interesse finden, wird darin doch sein unbestechlicher Sinn für dramaturgische Stringenz erkennbar. Schiller beurteilt hier das Drama „Carl XII.“, das Vulpius ihm mit der Bitte um eine Stellungnahme zugeschickt hatte. Schiller kam dem nach als ein Dramatiker, der genau wusste, dass seine eigenen Beiträge zum historischen Drama – er schrieb damals an „Maria Stuart“ – Meisterwerke sind: „Wenn dieses Stück um einige überflüßige Personen vermindert wird – wenn die Hauptbegebenheiten die jetzt zu weit auseinander geworfen sind und deßwegen flacher wirken in wenigere Haupt Massen zusammengedrängt werden – wenn zugleich noch etwas mehr für die historische Exposition geschieht, weil der Leser nicht gleich gehörig in die Situation gerückt wird, so zweifle ich an der theatralischen Wirkung nicht.“ Das war vernichtend, und es ist nicht überraschend, dass Vulpius diese Kritik nicht umsetzen konnte oder wollte. Man würde Schillers Empfehlung gern den Drehbuchautoren historischer Fernsehserien von heute ins Stammbuch schreiben, die eher nach gegenteiligen Prinzipien vorzugehen scheinen.

Hübsch ist auch das Billett, mit dem Schiller den Herausgeber des in Weimar erscheinenden „Journals des Luxus und der Moden“, Carl Friedrich Bertuch, im Februar 1803 zu sich nach Hause einlud: „Herr LandKammerrath Bertuch ist heute Abend um 5 Uhr auf ein Glas Punsch und eine Tragödie freundschaftlichst eingeladen.“ Die Tragödie, die Schiller drei Tage zuvor beendet hatte und bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal vorlas, war „Die Braut von Messina“, Schillers formal gewagtestes, am stärksten antikisierendes Drama, in dem er zum ersten und einzigen Mal einen Chor nach dem Vorbild der griechischen Tragödie auftreten lässt. Ob das Stück auch bei dieser Lesung durchfiel, wie bei der Weimarer Uraufführung wenig später, ist unbekannt. Der Punsch mag es verhindert haben.

Die Ablehnung der Fieberschrift

Gewichtiger als derartige Nachträge ist die sorgfältig übersetzte und gründlich kommentierte Wiedergabe von Schillers sogenannter Fieberschrift, der lateinischen Abhandlung „De Discrimine Febrium inflammatorium et putridarum“ („Über den Unterschied zwischen entzündlichen und fauligen Fiebern“), die er 1780 als zweite Prüfschrift an der Karlsschule einreichte, nachdem die erste abgelehnt worden war. Man staunt bei der Lektüre dieses Textes: nicht nur angesichts von Schillers souveräner Beherrschung der differenzierten Fachsprache (in die ein umfangreiches Glossar einführt), sondern auch angesichts seiner beeindruckenden Kenntnisse des medizinischen Schrifttums seit der Antike. Zudem bringt er es fertig, ein verändertes „Hamlet“-Zitat in den Text zu schmuggeln und damit das medizinische Wissen seiner Zeit infrage zu stellen: „There are more things in Heaven and Earth / Than are dreamt of in our philosophy“ (im Original heißt es „in your philosophy“).

Und nicht zuletzt gelingt es ihm, die spröde Materie auf eine Weise darzustellen, die stellenweise geradezu dramatisch genannt werden kann. Das alles änderte aber nichts: Die zuständige Kommission nahm auch diese Schrift nicht an, sodass Schiller einen dritten Anlauf nehmen musste – und damit schließlich erfolgreich war. Wie der Kommentar darlegt, ist Schiller mit der Ablehnung seiner Fieberschrift jedoch kein Unrecht geschehen: Denn die Abhandlung hat keinen richtigen Schluss, sodass man den (wohl zutreffenden) Eindruck gewinnt, sie sei unter Zeitdruck entstanden, zudem sind inhaltliche Lücken zu verzeichnen, was bei einem derartigen Thema allerdings auch schwer zu vermeiden war.

„Körners Familienleben“: Satirische Bilderfolge aus den „Avanturen des neuen Telemach“ (1786), die Schiller mit L.F. Huber anfertigte
„Körners Familienleben“: Satirische Bilderfolge aus den „Avanturen des neuen Telemach“ (1786), die Schiller mit L.F. Huber anfertigteMetzler Verlag

Den Höhepunkt des 43. Bandes bildet indes ein anderes Werk, das nicht wenigen Leserinnen und Lesern Schillers unbekannt sein dürfte, weil es eine Seite dieses Autors repräsentiert, die nicht zum Bild des „Nationalklassikers“ passte und deshalb in vielen Schiller-Ausgaben bisher nicht enthalten war. Die Rede ist von einer Bildgeschichte, die Schiller zusammen mit dem Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber anfertigte, um sie ihrem gemeinsamen Freund Christian Gottfried Körner zu seinem 30. Geburtstag im Juli 1786 zu überreichen. Die Geschichte trägt den Titel „Avanturen des neuen Telemachs“ und besteht aus 15 Doppelblättern. Schiller steuerte die Bilder bei, Huber die Texte. Auf dem Titelblatt steht freilich etwas anderes: Danach stammen die Bilder der Geschichte von William Hogarth, dessen satirische Bilderfolgen eines der Vorbilder sind, denen Schiller und Huber nacheiferten, die Texte aber von Johann Joachim Winckelmann. Bereits diese fingierte, den englischen Karikaturisten und den deutschen Klassizisten auf völlig unwahrscheinliche Weise kombinierende Autorschaft macht deutlich, in welchem Geist die „Avanturen des neuen Telemach“ verfasst sind: Es ist ein Spaß unter Freunden – bei diesen Freunden handelt es sich aber um Intellektuelle auf der Höhe ihrer Zeit. Entsprechend voraussetzungsreich ist die Bildgeschichte, die bereits in ihrem Titel auf ein Erfolgsbuch der europäischen Aufklärung anspielt: „Les Aventures de Télémaque“ von François Fénelon, in denen kaum verhüllt Kritik am Regierungsstil König Ludwigs XIV. geübt wird. Hinter dem „neuen Telemach“ hingegen verbirgt sich Schillers Freund Körner, der damals als Oberkonsistorialrat in Dresden tätig war und dem Schiller viel zu verdanken hatte.

Es ist eine Freude, die „Avanturen des neuen Telemach“ – die jetzt zum ersten Mal nach den erst vor wenigen Jahrzehnten in Yale aufgetauchten Handschriften vollständig, in der originalen Reihenfolge und gestochen scharf wiedergegeben werden – zu betrachten. Man meint, einen frühen Comic vor sich zu haben. Schiller war als Zeichner nicht unbegabt, auch wenn er, der Tradition der Karikatur entsprechend, teilweise bewusst unbeholfen vorging. Sehr pointiert ist etwa Blatt 12, auf dem unter dem Titel „Die verkehrte Welt“ zu sehen ist, wie Körner seinem Vater, dem im Jahr zuvor verstorbenen Leipziger Superintendenten, „ein ästhetisch-moralisches Kollegium“ über Schillers „Räuber“ vorliest. Wie ernst der Sohn es meint, wird an der Rute in seiner Hand erkennbar. Deutlicher hätte der Konflikt der Sturm-und-Drang-Generation mit der Welt ihrer Väter kaum zum Ausdruck gebracht werden können.

Schillers bestes Bild ist aber vielleicht die Darstellung des „berühmten Dichters“ – gemeint ist er selbst –, „wie ihn“, so die Erläuterung Hubers, „verschiedne vernünftige Leute gesehen haben“. Diese Darstellung zeigt Schiller auf dem Kopf stehend, das Gesicht dem Betrachter, der Betrachterin zugewandt, ein Bein abgewinkelt, das andere in die Höhe gestreckt: der angehende Klassiker beim Kopfstand. Wie es scheint, verspottet Schiller hier alle diejenigen, die sich ein allzu „vernünftiges“ Bild von ihm gemacht haben, also eines, in dem für derartige Späße kein Platz ist. Das trifft auf den jungen Schiller, wie er von den älteren Zeitgenossen wahrgenommen wurde, genauso zu wie auf den „braunen Schiller“ des Nationalsozialismus und den „roten Schiller“ der DDR, und auch auf den überzeitlichen, tendenziell unpolitischen Schiller der Bonner Republik. Über all diese Instrumentalisierungen und die mit ihnen einhergehenden Verzerrungen scheint sich der auf dem Kopf stehende Schiller lustig zu machen, als habe er bereits geahnt, was die Nachwelt aus ihm machen würde.

Dass dieses Bild jetzt im letzten Band der Nationalausgabe zu finden ist, kann man demnach kaum anders verstehen als ein satirisches Nachspiel zu dieser Ausgabe, das – wie das Satyrspiel im antiken Theater – auf die vorausgegangenen Tragödien folgt und die Funktion hat, das um bedeutende ästhetische Erfahrungen bereicherte Publikum in einer heiteren, vergnügten Stimmung aus dem Theater zu entlassen.