
Es ist wieder so weit. Cringe-Feiertag für Reality-Fans mit Catwalk-Interessenshintergrund. Traditionell eskaliert jede Germany’s-Next-Topmodel-Staffel nämlich abschließend in einem skurrilen Finale, in dem auch schon mal geheiratet oder die Halle nach Bombendrohungen geräumt wird. Auch dieses Jahr bleibt dabei investigativ-journalistisch unbeleuchtet, warum Model-Dompteurin Heidi Klum seit der Premierenstaffel konsequent vom „großen GNTM-Finale“ spricht. Zumal ein „großes Finale“ ja recht eindeutig suggeriert, es gäbe anderswo auch ein „kleines Finale“. Wobei: Für echte Topmodel-Fans gibt es das tatsächlich. Das ist nämlich stets die Folge, in der sich Thomas Hayo die Ex-Juroren-Ehre gibt. Jahr für Jahr fiebert die Nation dann der Entscheidung entgegen, welche Vokabel GNTD (Germany’s Next Topdenglish) wird: Attitude oder Power.
Stichwort Finale. Das beginnt zum 20. Jubiläum auf der großen Fernseh-Showbühne im Kölner Coloneum mit einer Tanzeinlage des Ensembles des „Moulin Rouge“-Musicals, bei der Lokalmatadorin Zoe (kommt nebenan aus Pulheim) den lautesten Applaus einfährt. Kein Problem für das alte Showbiz-Kaninchen Heidi Klum. Die hat sich für den Endgame-Tag outfitphilosophisch entschieden, ihren beiden Argumentationshilfen Hans und Franz einen promienten Auslageplatz auf ihrem Dekolleté zuzuweisen und temperiert den Saal mit der Ankündigung, im Laufe des Abends wären auch noch „Tokio Hotel in the House“, direkt wieder gekonnt runter.
Erstmal flanieren die Ex-Siegerinnen über den Laufsteg
Als es dann nach dem gewohnt fremdschamintensiven Opener in die sogenannten Vollen geht, zeigt sich Klum als Albert Camus der Modelbranche. Auch sie hat viel vom Fußball gelernt. Vor allem, wie man taktisch Zeit von der Uhr nimmt. Das eigentlich nur auf drei Stunden und 20 Minuten angelegte Jubiläumsfinale erfährt sendezeitoptimierend und gleichzeitig quotenvernichtend mit dem Einlauf aller Gewinnerinnen der bisherigen 19 Staffeln das erste langwierige Überbrückungselement. Knapp 40 Minuten flanieren die mal mehr, mal weniger an Topmodels erinnernden Ex-Siegerinnen über den Studio-Laufsteg. Das hat aber auch Vorteile. Bis weit nach 21 Uhr muss niemand einen grenzwertigen Showact aushalten.

Wackere Hobbychronisten registrieren trotz Klums wohltemperierter Stimmfarbe „Alarmanlage“, dass die Ankündigung „hier sind alle Gewinnerinnen der ersten 19 Staffeln“ formalmathematisch nicht korrekt ist. Sara Nuru, die 2009 obsiegte und Jana Beller (Siegerin von 2011) fehlen unentschuldigt. Um die Styling-Abteilung des Unterföhringer Nischensenders für unterhaltungsaffine Bewegtbildinhalte nicht kollabieren zu lassen, darf jede anwesende Ex-Triumphatorin an diesem Abend ihr persönliches Lieblingsoutfit tragen. Dadurch wirkt das Szenario mitunter wie eine Mischung aus Abiball an der Waldorfschule und Midlife-Crisis. Immerhin werden aber viele Ausschnitte gezeigt. Also Bewegtbild-Ausschnitte. Für den Walk of Memories aus 19 Vorgängerstaffeln ist Alisar Ailabouni extra aus New York angereist. Aber auch alle, die sich in den vergangenen Jahren aus GNTM-Knebelverträgen rausklagen mussten, sind vollzählig angetreten. Und selbst diejenigen, die die Glitzerwelt schon lange gegen eine Karriere als Steuerfachangestellte (Jennifer Hof) oder Vollzeit-Mama (Lovelyn Enebechi) eingetauscht haben, werden vom stoisch vor sich hin ausrastenden Publikum jubelnd gewürdigt.
Vorher tragbar, hinterher traurig baumelnder Reststoff
Kurz darauf folgt dann das erste Highlight des Abends. Um 21.07 Uhr steht Thomas Hayo auf der Bühne. Seinem freundschaftlichen Begrüßungsritual mit Klum wohnt viel Nostalgie inne. Die elementaren Bausteine der vergangenen Jahre, Denglish und Plusquamperfekt, bleiben vereint einfach unschlagbar. Es ist dann bereits 21.10 Uhr, als sich irgendjemand mit Produktions-Verantwortungskompetenz daran erinnert, dass es hier ja ursprünglich um die verbliebenen Finalisten ging und die sechs Noch-Favoriten in den ersten Entscheidungs-Walk schickt. Alle tragen dabei Kreationen von „Kidsuper“.

Offenbar ein experimentelles Kunstprojekt mit Hang zu Auflösungserscheinungen. Die tiefere, gesellschaftskritische Message hinter der Kollektion lautet vermutlich: „Mode ist vergänglich!“ Beim ersten Schritt auf den Runway nämlich sehen die Pullover, die die Finalisten tragen, wie ein Skianzug aus – am Ende des Catwalks hängt dann aber nur noch ein winziger Wollfetzen von den Hüften der in hübscher Lingerie posierenden Zoe, Magdalena, Daniela, Pierre, Jannik und Moritz. Vorher tragbar, hinterher ein traurig am Körper baumelnder Reststoff. Kidsupers Kleider sehen ein bisschen so wie Vorher-Nachher-Bilder meiner Lieblingsklamotten aus, wenn ich sie selbst in die Waschmaschine gesteckt hatte.
Pullover, die bereits komplett aufgeribbelt sind, bis das Model am Ende des Catwalks angelangt ist, fallen ehrlich gesagt eindeutig in die Kategorie „Mode ohne Konsumentenrelevanz“. Wirtschaftlich kein optimales Konzept. Ich kenne jedenfalls niemanden, der in einer Boutique einen Haufen Wolle rumliegen sieht, der aussieht, als hätte Bigfoot eine Portion Spaghetti erbrochen, und dann sagt: „Mega, das nehme ich! Hier, 5000 Euro!“ Aber dafür ist der Name der Brand gut: Kidsuper. Das bringt sofort Pluspunkte bei Eltern. Viele davon finden nämlich ebenfalls ihr Kidsuper. Und auch die Message hinter der selbstauflösenden Couture bleibt schleierhaft. Kritik an der Schnelllebigkeit der Fashiontrends? Könnte sein. Am Anfang sieht die Mode immerhin so gut aus, dass alle denken: Wow! Neunzig Sekunden später allerdings hat sie sich dann bereits wieder komplett in Luft aufgelöst. Vielleicht auch eine Hommage an die Karrieren der meisten GNTM-Siegrinnen.
„Wer darf in die nächste Runde einsteigen?“
Nachdem jeder der sechs Finalisten nun also ungefähr 25 Sekunden zu sehen war, waltet Heidi Klum ihres Juryamtes. Sie hält GNTM offenbar für einen Sportwagen und fragt in die Live-Runde: „Wer darf in die nächste Runde einsteigen?“ Zoe hat scheinbar keinen Modelführerschein und kommt nicht durch den Klum-TÜV. Und da Klums Modelzirkus inzwischen das Diversity-Flaggschiff der deutschen TV-Unterhaltung ist, entzieht Karriereterminator Heidi einige Sekunden später selbstredend auch einem Y-Chromosomträger die Aufenthaltsgenehmigung auf den Brettern, die die Modelwelt bedeuten: Jannik.

Vor lauter Trauer über diesen Verlust vermasselt Klum die wochenlang lang intensiv geprobte Schauspieleinlage, in der sie verzweifelt ihre Handtasche suchen soll, und so steht plötzlich weitestgehend kontextbefreit Bruce Darnell auf der Bühne. Der Erfinder des Fashion-Accessoire-Mottos „Die Handetasche muss läbbändick sein!“ erfüllt keine nachvollziehbare Aufgabe, außer eine übergroße Tasche durch die Gegend zu tragen, so wie in einem anderen legendären Finale einst Kultkandidatin „Klaudia mit K“ ihr überlebensgroßes „K“. Aus Trotz brüllt er wahllos einige im Publikum weggedöste Ex-Kandidatinnen aus dem Dämmerschlaf und stellt ihnen elementare Fragen wie „Was machst du so?“ Und das mit einer impertinenten Ernsthaftigkeit, als hätte beispielsweise Curvy-Model Masha („Du trägst einen Ring, heiratest du bald?“) soeben verkündet, sie hätte ein Mittel gegen Krebs erfunden.
Auch Naomi Campbell kann Klum nicht aufhalten
Wie immer werden auf Klums Showcouch die Gäste schneller durchgetauscht als Trainer bei Schalke 04. Und so sitzen nach Darnells kurzem Markus-Lanz-Anfall plötzlich Naomi Cambell und Heidi-DNA-Klon Leni andächtig um Klums weiterhin bildschirmfüllendes Dekolleté. Aber auch Campbell kann nicht verhindern, dass Klum eine weitere Stunde Sendezeit mit einer „Best of“-Rückschau auf ikonische Momente einstiger Nicht-Gewinnerinnen vernichtet. Zum Glück ist kein wurfbereites Telefon in der Nähe.
Dann schlägt die Stunde der für internationale Gäste parat stehenden Simultan-Übersetzerin. Offenbar waren statt Campbell ursprünglich Kylian Mbappé oder Emmanuel Macron als Überraschungäste geplant. Die Live-Dolmetscherin spricht dementsprechend wohl nur französisch. Leni Klums „I really love you“ (gemeint ist Magdalena) übersetzt sie jedenfalls mittelmäßig mustergültig mit: „Es ist klasse, wie du läufst!“ Für mich insgesamt rätselhaft, warum überhaupt jemand Externes von Englisch auf Deutsch sprachsoufflieren muss: Thomas Hayo ist doch vor Ort. Der hätte Klum-Sätze wie „Und später kommt auch noch Bastian Schweinsteiger, also bleiben Sie dran!“ sogar im Koma noch korrekt mit „And later we have Basti Pigclimber, so don’t zapp off the Werbepause!“ wegübersetzt.
Das erste Live-Unterwassershooting der GNTM-Geschichte
Ich bleibe trotzdem dran, und das lohnt sich. Nach kurzer Produktinformationspause folgt nämlich das spektakulär angekündigte erste Live-Unterwassershooting der GNTM-Geschichte. Wobei: Als Heidi Klum dem gewinnbereiten Modelnachwuchs direkt am Foto-Bassin die Spielregeln erläutert, klingt das Vorhaben plötzlich etwas nachjustiert: „Ihr habt 90 Sekunden, wenn ihr unten unter dem Wasser seid!“ Unter dem Wasser? Also doch kein Unterwasser-Shooting, sondern eine Art Sub-Pool-Keller-Special.

Kurz nachdem in der ProSieben-Zuschauerredaktion erste Dankesbriefe eingehen, dass beim GNTM-Finale an diesem Abend komplett auf sinnlose Music-Acts verzichtet wird, bricht Klum das Unterwasser-Desaster ab, simuliert einen spontanen Euphorie-Anfall und kündigt Tokio Hotel an. Naja, man kann nicht alles nicht haben. Musikalisch bleibt der Auftritt ihrer Schwager-Combo unspektakulär, optisch liefern Tom und Bill, das Zwillingsduo aus dem Gästeflügel der Klum-Mansion, aber stabil ab: Bill sieht inzwischen aus wie Billie Eilish, während Klum-Ehemann Tom den Balu-der-Bär-Look perfektioniert hat.
Es brechen alle Dämme
Als Heidi Klum dann zur ersten Gewinnerverkündung endlich zwischen Moritz und Pierre steht, glänzt Attitude-Verweigerer Moritz nochmals mit rhetorischer Dynamik. Auf die Frage, ob es wohl Wahnsinn wäre, dass er nach so vielen Monaten jetzt hier steht, presst er ein semibegeistertes „Joa“ raus, als hätte man ihm während des Stuhlgangs durch die Toilettentür zugerufen, dass er abputzen nicht vergessen soll. Trotzdem fährt er den Sieg ein. Wobei Klum seinen Namen erst dann leicht stotternd in den Konfettiregen brüllt, nachdem sie bereits gefühlte drei Minuten seinen Arm in den Himmel gereckt hatte. Ein böser Verdacht kommt auf: Sollte Heidi Klum an einer Rechts-Linksschwäche leiden und versehentlich den falschen Male-Kandidaten zum Gewinner gekürt haben?
So oder so: Es brechen alle Dämme. Und Pierre-Fans in den Social Media Kommentarspalten auch. „Unverdient“ trendet, sogar von „Betrug“ ist die Rede. In der Halle bekommt das zunächst aber niemand mit. Traditionell flutet Sekunden nach der Verkündung die schockeuphorisierte „Family and Friends“-Riege des Siegers die Bühne. Quasi der Platzsturm für Modelfans. Im Team Moritz neigt man dabei zu skurrilen Verkleidungen. Mit dem Familiennachzug auf den Gewinner-Runway steht plötzlich ein als Banane verkleideter Moritz-Supporter im Jubelpulk. Oder haben die geschäftstüchtigen Helikoptereltern von Moritz womöglich noch von der VIP-Tribüne aus erste Influencer-Kooperationen mit Chiquita eingefädelt?
Zum Schluss wird’s schnörkellos
Viel Zeit für Obstsalat-Analysen bleibt jedoch nicht. Nach einer winzigen Werbepause, in der Heidi Klum kurz ins benachbarte Bergisch-Gladbach radelt, um sich von ihrer Mutter die Haare nachfrisieren zu lassen, treten nämlich auch noch Magdalena und Daniela zu ihrem allerletzten Final-Walk nach 25 Episoden GNTM 2025 an. Passend zur intellektuellen Ausrichtung der quotenschwächelnden TV-Casting-Institution tragen beide einen Hauch von Nichts. Weil Heidi Klums Familienzusammenführung da bereits knapp 16 Minuten Sendezeit-Überziehungskredit ausgeschöpft hat, erklärt das sonst im Verkündungsmodus zuweilen quälend langsam operierende Moderationstalent relativ schnörkellos Daniela zur Siegerin. Für die verbleibenden 40 Sekunden Party-Outro rauft sich Heidi Klum verzweifelt die Extensions und schluchzt, diese Entscheidung wäre ihr unmenschlich schwergefallen.

Bis es im Frühjahr 2026 mit der 21. Staffel weitergeht, trägt nun also das Siegerduo Barbie und Ken das GNTM-Zepter über die Aftershow-Partys der Berliner Fashion Weeks. Und wir lesen uns im Februar wieder! Bis dann!