
Er habe „eine beklagenswerte Vorliebe für Nutzgärten“ und schrecke „vor keiner Darstellung von Kohl oder heimischem Gemüse“ zurück, bescheinigte ein Kritiker dem Maler Camille Pissarro bei der ersten Impressionisten-Ausstellung im Jahr 1874. Tatsächlich malte Pissarro nicht nur Gemüse, sondern auch Hühner und Gänse, Schafherden, Eselskarren, Pferdewagen, Bäuerinnen bei der Heuernte, eine Metzgerin auf dem Straßenmarkt, ein Schwein, das aus einem Trog frisst. Dazu Dampfschiffe, Eisenbahnen, Flusshäfen, Fabrikschlote, Dächer in Rouen und den Verkehr auf den Pariser Boulevards.
Aber bei Pissarro wirkt diese Alltagswelt der frühen Moderne nicht banal. Sie wird zur Bühne des Lebens. Eine Schleuse in Pontoise erhält durch ein knallrotes Haus, das sich im Wasser spiegelt, einen dramatischen Akzent. Ein leerer Platz an einem Friedhof scheint in der Mittagshitze von Geistern bevölkert. Die Straße von Louveciennes nach Versailles verflüssigt sich im Spiegeleffekt des Regens. Eine Uferpromenade mit Arbeitern und Spaziergängern zittert im Frühlingswind, der die Rauchfahnen aus den Schornsteinen im Hintergrund verbläst. Man ertappt sich dabei, dass man Heimweh nach diesen Orten und Landschaften hat, Heimweh nach dem Rasseln der Räder, dem Tuten der Schiffshörner, den Wegen am Stadtrand, den Dorfwiesen im Schnee. Das alles ist Geschichte, aber zugleich ist es immer noch da, aufbewahrt in den Pinselstrichen von Pissarros Kunst.
Zola erkannte früh Pissarros Genie
Einer der Ersten, der sah, was wir heute sehen, war Émile Zola, der im Pariser Salon von 1866 Pissarros „Ufer der Marne im Winter“ entdeckte. In der Wüste des Gefälligen, schrieb der Autor von „Nana“ und „Germinal“, habe ihm das Gemälde Erholung geschenkt: „Man sieht nur ein Stück Straße, dahinter eine Anhöhe und bis zum Horizont abgeerntete Felder. Nirgends eine Augenweide. Eine nüchterne, ernste Malerei, deren letztes Anliegen Wahrheit und Genauigkeit ist.“ Im Übrigen habe das Bild niemandem gefallen: „Warum, zum Teufel, sind Sie aber auch so bemerkenswert ungeschickt, solide zu malen und die Natur unbefangen zu studieren?“
Ja, warum? Die Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini, die Pissarros Lebensweg mit mehr als hundert Werken nachzeichnet, gibt darauf eine vage, aber suggestive Antwort: Es war das Gefühl der Fremdheit, das den Maler antrieb, sich immer wieder aufs Neue mit der Landschaft und den Städten Frankreichs zu verbinden. 1830 auf der Karibikinsel Saint Thomas als Kind sephardischer Juden geboren, die vor der Inquisition aus Portugal nach Frankreich geflohen und von dort nach Dänisch-Westindien ausgewandert waren, kam Pissarro als Zwölfjähriger auf ein Pariser Internat. Fünf Jahre später holte ihn sein Vater zurück, aber statt in dessen Eisenwarenhandlung mitzuarbeiten, trieb er sich mit dem dänischen Maler Fritz Melbye am Hafen herum und zeichnete. 1852 schifften sich die beiden nach Venezuela ein, wo sie zwei Jahre blieben.

Die Ausstellung dokumentiert diese Frühphase in zehn Beispielen. Sie zeigen, dass Pissarro schon auf Corots Spuren unterwegs war, als er von dessen Malerei noch gar nichts wissen konnte. Die Landschaft, ob als Zeichnung oder Aquarell, wird in diesen Bildern zum Stimmungsträger, die Figuren sind Staffage. In seinem späteren Werk, vor allem in den Szenen bäuerischen Lebens, wird er ihnen ein eigenes Gewicht geben, aber ein Menschenmaler ist Pissarro bis zuletzt nicht geworden. Er suchte seine Wahrheit, wie die meisten Impressionisten, im Widerschein der Welt, nicht im Glanz eines Gesichts.
Pissarro war bei jeder der acht Ausstellungen der Impressionisten dabei
In Paris, wohin er 1855 zurückkehrt, wird er Corots Schüler, setzt sich aber bald von ihm ab. Die Weichzeichnung, Corots Markenzeichen, macht der von Zola gefeierten Nüchternheit Platz, die akademische Bildgliederung einer zugleich freieren und ausgefeilteren Formensprache. Pissarros Sujets mögen simpel sein, seine Kunst ist es nicht. Die Gemüsegärten, Landstraßen und Flussufer, die er an seinem Wohnort Pontoise malt, sind Wunder der Geometrie, die Rautenmuster der Felder, die Vertikalen der Pappeln und Erlen lenken den Blick wie die Bodenfliesen und Stuhlrücken bei Vermeer. Auf einer Winterlandschaft, die auf der Impressionistenschau von 1874 Furore macht, werfen Bäume von jenseits des Bildes ein Schattennetz über die gefrorenen Äcker, auf dem Porträt der Bahnstation von Dulwich kreuzen sich die Hügelschrägen mit den gekurvten Bahngleisen im Bildmittelpunkt.
Diese formale Strenge macht Pissarros Malerei zum Rückgrat der impressionistischen Bewegung. Bis 1886 ist er bei jeder der acht Ausstellungen der Künstlergruppe dabei, zuletzt in einem Seitenraum zusammen mit Seurat und Signac. Denn seine Wahrheitssuche hat den Maler über die Höhenstufe des Impressionismus hinausgetrieben, in der pointillistischen Kombinatorik sieht er eine wissenschaftlich belegte Möglichkeit, das Leuchten der Dinge ins Auge zu tragen. Fünf Jahre lang arbeitet er sich verbissen an der neuen Technik ab, dann kehrt er, nicht ohne Bedauern, zum Mainstream der Rebellion zurück.

Denn Pissarro muss malen, rastlos und unermüdlich. Bis in die Neunzigerjahre ist er in Geldnöten, die er oft mit Auftragsarbeiten überbrücken muss; erst dann verschaffen ihm die Verkaufserfolge seines Galeristen Paul Durand-Ruel in Amerika ein wenig Luft. Er bemalt Kacheln, Jalousien, Fächer, und auf jedem Material bleibt er ein Meister. Während andere die Fächerform aus ihren Bildern herausschneiden, nutzt er das Bogenformat als Erzählmittel; der „Sankt-Martins-Markt“ und die „Schafherde, Sonnenuntergang“ sind Höhepunkte des Genres. Zugleich geht die Produktion von Dorf- und Vorstadtlandschaften, Ernte- und Straßenmarktbildern weiter, eins virtuoser als das andere, nur ohne den Aplomb, mit dem Renoir und Monet ihr Können inszenieren. Im impressionistischen Team spielt Pissarro immer im Mittelfeld, die Rolle des Flügelstürmers passt nicht zu ihm. Dafür bekennt er sich zum radikalen Anarchismus eines Proudhon und Kropotkin, lästert gegen das allgemeine Wahlrecht, wird 1893 per Haftbefehl gesucht und muss für kurze Zeit nach Belgien fliehen. In seinen Bildern sieht man davon nichts; den Respekt vor körperlicher Arbeit, der sie durchwebt, gibt es auch bei Millet und dem großbürgerlichen Caillebotte, und ernsthaft politisch betätigt hat sich Pissarro nie.

Seine Kunst kämpft nicht, sie versöhnt. „Harmonie“ ist, neben „Wahrheit“, eines seiner Lieblingsworte; und wenn man Bilder wie „Die Landstraße“ und „Gemüsegarten, bewölkter Morgen“ betrachtet, begreift man, was Pissarros Schüler Cézanne gemeint hat, als er erklärte, jener sei für ihn wie der liebe Gott gewesen. Pissarros Malerei ist das Paradies, aus dem die Moderne vertrieben wurde. Noch einmal fügt sich die sichtbare Welt zu einem tönenden Ganzen; die Hügel, die Flüsse, die Wiesen im Nebel, die winterlichen Sonnenuntergänge, sie strahlen im Abschiedsglanz. Bei Cézanne löst sich diese Harmonie in Farbflächen auf, bei van Gogh zerbricht sie im Sturm des inneren Erlebens. Pissarro aber, längst ein Greis, erfindet sich noch einmal neu. Als eine Augenkrankheit ihn an sein Pariser Hotelzimmer fesselt, beginnt er, die Metropole vom Fenster aus zu porträtieren. Es ist die erste von vielen Serien, die seinen späten Ruhm als Städtemaler begründen: Rouen, Dieppe, Le Havre – und immer wieder Paris: Pont Neuf, der Louvre, Boulevard Montmartre, die Avenue de l’Opéra. Es ist das vorletzte Kapitel des Impressionismus. Das letzte schreiben die Seerosen von Monet.
Mit offenem Blick. Der Impressionist Pissarro. Museum Barberini, Potsdam, bis zum 28. September. Der Katalog kostet 39,90 Euro.