
Natürlich sind jetzt wieder alle schön am Rummotzen. Die Spieler sind nach der langen Saison doch viel zu müde. Der Rahmenterminkalender zu voll. Der Rasen zu trocken. Das Publikum übersättigt. Die Ergebnisse zu oft torlos. Die Amerikaner gerade eh nicht so in Fußballstimmung. Nichts davon ist falsch. Aber in dieses durchaus nachvollziehbare Konzert der Nörgler hinein, darf man vielleicht auch mal ganz vorsichtig sagen: Bei Fluminense, einem der großen Klubs aus Rio de Janeiro, haben sie sich auf diese Klub-WM schon auch ein bisschen gefreut.
Nach dem 0:0 gegen Borussia Dortmund zum Turniereinstieg dürfte sich daran auch wenig geändert haben. Die Brasilianer waren über die gesamte Spielzeit hinweg das aggressivere und das bessere Team. Hätten Angreifer Jhon Arias und Mittelfeldmann Nonato nicht allerbeste Chancen gegen den stark reagierenden BVB-Torhüter Gregor Kobel ausgelassen, hätte dieser Tag für Dortmund übel enden können. Die Mannschaft von Trainer Nico Kovac trat rund einen Monat nach dem spektakulären Liga-Endspurt ein bisschen so auf, als bestreite sie ein Saisonvorbereitungsspiel gegen Saarbrücken oder Havelse. Für Fluminense war es eindeutig der WM-Auftakt gegen Dortmund.
Im Metlife Stadium von New Jersey, wo im kommenden Jahr auch das Finale der herkömmlichen WM ausgetragen wird, waren an diesem Tag höchstens ein Viertel der Sitze besetzt. Aber Fluminense trägt seine Heimspiele im Maracanã aus, seine Fans sind es gewohnt, sich die Tristesse leerer Oberränge schön zu singen.
„Die Leute wollen, dass du ihnen einen Pfannkuchen bäckst, aber sie geben dir nicht die Eier dafür.“
Und doch: Es gibt da diesseits und jenseits des Atlantiks eine grundlegend andere Betrachtungsweise bezüglich der Sinnhaftigkeit dieses Turniers. Für die Spieler, die in den europäischen Ligen beschäftigt sind, bedeutet es schlichtweg auch Arbeit, während sie eigentlich ihre kurzen Sommerferien hätten. Fluminense dagegen steckt zu Hause ohnehin mitten in der Saison. Für viele brasilianische Vereine und ihre Fans ist diese Klub-WM aber vor allem eine willkommene Gelegenheit, sich endlich auch mal auf Wettbewerbsniveau mit Mannschaften wie Real Madrid, Inter Mailand oder auch Dortmund zu messen, anstatt ihnen immer nur den nächsten Schwung an Nachwuchstalenten zu liefern. Oder wie es Renato Gaúcho, der in Rio weltberühmte Trainer von Fluminense, dieser Tage ausdrückte: „Die Leute wollen, dass du ihnen einen Pfannkuchen bäckst, aber sie geben dir nicht die Eier dafür.“ Man kann wohl sagen: Es geht da aus südamerikanischer Perspektive auch um die Überwindung eines Minderwertigkeitskomplexes.
Abgesehen von Ergebnis und Spielverlauf mussten die aus Dortmund angereisten Fans noch eine weitere Enttäuschung verkraften. Jobe Bellingham saß zunächst nur auf der Bank, dabei wollen natürlich alle dringend wissen, ob er auch nur halb so gut ist wie sein großer Bruder Jude Bellingham. Es war der emotionale Höhepunkt im Dortmunder Block, als Kovac den 19 Jahre alten Zugang nach knapp einer Stunde aufs Feld schickte.

Bellingham führte sich gleich mit einem rüden Foul ein, untermotiviert wirkte er jedenfalls nicht. Aber nach vorne gelang ihm genauso wenig wie sämtlichen Kollegen. Das lag allerdings auch daran, dass bei Fluminense Torhüter Fabio und Abwehrchef Thiago Silva ihre ganze Erfahrung ausspielten. Gemeinsam sind die beiden 84 Jahre alt.
Das Team aus Rio de Janeiro hat sich die ersehnte Portion an Respekt an diesem Tag redlich erarbeitet. Sie sind bei Fluminense sehr stolz auf ihre ausgeglichene Bilanz in sämtlichen Spielen der Vereinsgeschichte gegen aktuelle oder ehemalige europäische Champions-League-Sieger: Sieben Siege, sieben Niederlagen – und seit diesem Dienstag in New Jersey auch das sechste Unentschieden. Draußen auf dem Parkplatz des Stadions hatten sich Vertreter beider Traditionsklubs außerdem schon kurz vor dem Anpfiff bei einem Sackhüpf-Duell verbrüdert (auch das endete unentschieden). Darauf legen sie bei Fluminense nämlich Wert, dass der BVB auch ein Traditionsklub ist.
Im eigenen Fall stellt sich die Frage gar nicht. Im Estádio das Laranjeiras, einem tropischen Prachtbau, in dem Fluminense zwar längst nicht mehr trainiert oder spielt, wo sich aber immer noch irgendwo die Vereinsseele befinden müsste, trug die brasilianischen Seleção einst ihre allererste internationale Begegnung aus. Im Juli 1914 war das, Brasilien gegen Exeter City, ein 2:0. Übrigens begreift sich Fluminense genau wie Dortmund als Weltpokalsieger. 1952, lange bevor der Titel offiziell geschaffen wurde, gewann das Team nämlich die Copa Rio, an der damals Meister und Vizemeister aus aller Welt teilnahmen, unter anderem auch der 1. FC Saarbrücken. Vor einigen Jahren beantragte Fluminense bei der Fifa, diese Trophäe als offiziellen Weltpokalsieg anerkennen zu lassen. Bislang kam seltsamerweise kein positiver Bescheid zurück.