Unser Autor fühlte sich so frei wie nie

Freiheit hat viele Bedeutungen – ein Achtzehnjähriger hat keine sonderlich hohen Ansprüche. Die Zeit, in der ich mich zum ersten Mal besonders frei fühlte, war nach dem Abitur. Plötzlich entschied niemand mehr, wo ich morgens um 8 Uhr zu sein hätte, plötzlich interessierte sich keiner mehr für meine mündliche Beteiligung im Unterricht, plötzlich gab es keinen zwangsdurchgetakteten Alltag mehr: Zum ersten Mal schien wirklich alles, alles möglich.

Nach acht Jahren gymnasialer Knechtschaft, so glaubten ich und meine Freunde naiv, würde uns die weite Welt nun endlich ihren roten Teppich ausbreiten. Dass mir, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, sofort der Cuba Libre in den Sinn kommt, liegt an einem Zufall. Aber schon im Namen des Longdrinks steckt beides: Kuba – zwar nicht frei, aber die weite Welt – und „libre“. Dass das so etwas wie frei bedeuten musste, konnten wir uns, Latinum sei Dank, erschließen.

Nur, wer hätte es gedacht, unserer Freiheit waren finanzielle Grenzen gesetzt. Die weite Welt beschränkte sich deshalb auf den kurzen Flug von München nach Barcelona. Zwei enge Freunde und ich wollten dort ein paar Tage verbringen, bevor wir unseren Jahrgang für unsere Abifahrt im nahe gelegenen Calella wiedertreffen würden.

Sonne, Bier und Tapas genügten

Barcelona war wunderbar. Uns genügten für diese Erkenntnis Sonne, Bier und Tapas. Auch die Sagrada Família und der Park Güell waren nicht schlecht. Aber die beste Entdeckung, da sind wir uns Jahre später noch einig, machten wir direkt am ersten Abend.

Als wir durch die verwinkelten Gassen der Innenstadt zogen, stießen wir auf eine Bar, aus der es aufdringlich nach Blumen roch und die entsprechend „Tres Flores“ hieß. Woher der Geruch kam, blieb unklar, in dem dunklen Kellergewölbe standen nur Tische, Stühle, Sofas und eine lange Holztheke. Für die spärliche Beleuchtung sorgten alte Wohnzimmerlampen. Auf der Cocktailkarte war der Cuba Libre günstig und damit das Getränk unserer Wahl. Auch der fruchtige Geschmack mit der Vanillenote überzeugte. Von Rum verstehe ich zwar bis heute nichts, aber gemischt mit Cola schmeckte uns damals alles. Und dass der Barkeeper mit dem Hochprozentigen nicht sparte, kam uns gerade recht.

Schmeckt in einer All-Inklusive-Hotelbar überhaupt nicht magisch: Cuba Libre
Schmeckt in einer All-Inklusive-Hotelbar überhaupt nicht magisch: Cuba LibrePicture Alliance

Irgendwann verstanden wir, dass die eigentliche Party draußen stattfand. Die Menschen tummelten sich in den Gassen, ein junger Mann spielte in einer tanzenden Traube Gitarre. Ein Kerl versorgte die Leute aus seiner Fahrradtasche mit Dosenbier, verschwand immer wieder kurz und kam dann mit Nachschub zurück. Wir waren beseelt, vom Cuba Libre, von der Unbeschwerheit. In München wäre so ein Getümmel um diese Uhrzeit undenkbar gewesen. Die Katalanen sehen wohl vieles entspannter, dachten wir, einfach mehr „libre“. Ganz so glücklich waren die Anwohner über den nächtlichen Lärm dann aber doch nicht. Kurze Zeit später flogen rohe Eier aus einem der Fenster. Also ging’s zurück in die Bar.

Nichts schien in Stein gemeißelt

Die duftende, dämmerige „Tres Flores“ wurde zu unserer einzigen Konstante in den nächsten Tagen. Jeden Abend kamen wir auf wenigstens ein Glas vorbei, ließen uns von Einheimischen und Touristen Geschichten erzählen. Nichts schien in Stein gemeißelt, der Spruch „Keine Termine und leicht einen sitzen“ war damals noch nicht Social-Media-präsent, aber genau so fühlte sich unser Leben an. Die Nächte in Barcelona hatten etwas Magisches. Und der Cuba Libre war unser Zaubertrank.

Die Magie erlosch abrupt, als wir zu unseren Klassenkameraden in Calella stießen. Die kleine Stadt am Meer lebt davon und damit, dass Scharen feierwütiger deutscher Abiturienten sie allsommerlich belagern. Auf dieses Geschäft haben sich die lokalen Clubbesitzer und deutsche Jugendreisenanbieter spezialisiert. Also saß die „Elite“ – den bodenständigen Namen hatte sich unser Jahrgang damals gegeben – nach einer knapp vierzehnstündigen Busfahrt bei drückender Hitze vor dem Hotel und wartete auf die Anweisungen des Veranstalters. Und als wären wir wieder in der Schule, entschied eine höhere Macht über unsere Tagesgestaltung.

Ich erlebte zum ersten Mal den Horror eines All-inclusive-Urlaubs. Alle Tage waren gleich. Nach dem Frühstück Strand, Mittagessen im Hotel, dann wieder Strand, dann Abendessen. Den Rest des Tages verbrachten wir an der Hotelbar am Pool und zofften uns mit Familienurlaubern um die wenigen freien Stühle. Da gab’s zwar auch Cuba Libre. Der hatte aber nichts mit dem Drink aus Barcelona zu tun: Plastikbecher statt Glas, Sirup statt fruchtiger Vanillenote, Trägheit statt Zauber.

Nachts hieß es dann Spaß auf Ansage, für jeden Abend hatte unser Reisedienstleister einen anderen Nachtclub auserkoren. Dort immer anwesend: die selbst ernannte junge Bildungselite, die sich zu Ballermann- und Chartmusik mit Wodka-Energy berauschte und „Abi-, Abi-, Abi-, Abitur“ grölte. Magisch war davon nichts.

Im Nachhinein glaube ich: Mit Aufbruch hatte die Zeit damals wenig zu tun. Unsere Abifahrt war eher ein Abschluss. Menschen, die ich über Jahre jeden Tag gesehen hatte, verschwanden danach in alle Richtungen, zu den meisten habe ich keinen Kontakt mehr. Auch die Kellerbar in Barcelona gibt es nicht mehr, wie ich bei einem späteren Urlaub feststellen musste. Aber die beiden Freunde, mit denen ich in Barcelona war, treffe ich immer noch. Zwar nur selten, aber dann erinnern wir uns immer an damals – an Barcelona und unseren Zaubertrank.