
Als sich am Mittwochabend im Münchner Fußballstadion drei portugiesische Spieler in ihren roten Trikots aufstellten, stiegen hinter ihnen auf der Haupttribüne der Lärmpegel und die Erwartung. Die Zuschauer dort im Unterrang, die es mit der Seleção hielten, trugen fast alle Cristiano Ronaldos Shirt mit der Nummer 7, freuten sich aber, dass die Spieler mit den Nummern 2, 23 und 26 ins Nations-League-Duell mit der deutschen Elf kommen sollten.
Ihre Erwartungen sollten erfüllt werden: Verteidiger Nélson Semedo hatte seine rechte Seite im Griff, Mittelfeldstratege Vitinha zog alle Bälle an und lief jede Lücke zu, Rechtsaußen Francisco Conceição wirbelte und traf kaum fünf Minuten später per Traumtor zum 1:1.
Unmittelbar nachdem die drei Portugiesen auf das Feld gelaufen waren, stellten sich an gleicher Stelle auch drei deutsche Spieler auf. Sie trugen weiße Trikots mit den Nummern 9, 20 und 21. Ein Raunen ging nicht durch die Reihen. Das passierte, als Conceição angespielt wurde, er die deutsche Nummer 21, Robin Gosens, im Regen stehen ließ und den Ball ins Tor schlenzte. Gosens Abend war früh gelaufen, auch Stürmer Niclas Füllkrug, Nummer 9, und Serge Gnabry, 20, rechts im Mittelfeld waren nicht die „Energieträger“, die Julian Nagelsmann in ihnen sah.
Vitinha ist Portugals Superjoker
So musste der Bundestrainer zugeben: „Die Wechsel der Portugiesen hatten viel Einfluss auf das Spiel.“ Zufall war das nicht. Vitinha, dessen Schuhe eine magnetische Wirkung auf den Ball zu haben scheinen, stand nicht in der Startelf, obwohl er qua Leistung als einer der besten Spieler von Champions-League-Sieger Paris Saint-Germain dorthin gehört hätte. Doch Nagelsmanns Kollege Roberto Martínez hatte einen besseren Plan. Er sah Vitinha als den Joker, bei dem er ganz sicher war, dass der seine Mannschaft gegen Ende des Spiels stärken würde.
Die Gewissheit hatte Nagelsmann, der nach dem Rückstand noch Felix Nmecha und Karim Adeyemi brachte, nicht. Mit Gosens und Gnabry waren Spieler erste Einwechseloptionen, die nicht gut genug für den EM-Kader waren. Dazu kam Füllkrug, der weite Teile dieser Saison durch Verletzungen verpasst hatte.
Es war der Praxisbeweis, dass der Kader in der Tiefe derzeit nicht ausreichend gut besetzt ist, um in der (Personal-)Not mit Teams aus der Weltspitze mithalten und sie besiegen zu können. Nagelsmann kennt das Dilemma und hält mit Blick auf die WM 2026 daran fest, „dass wir einen Stamm haben von 13, 14 Spielern, die unser Vertrauen haben“. Es bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, wenn der Titel das Ziel ist.
Weil bei der Nations-League-Finalrunde einige dieser 13, 14 Stammspieler – Antonio Rüdiger, Nico Schlotterbeck, Kai Havertz und Jamal Musiala – fehlen, wurde die Lücke dahinter sichtbar. Durch die Rücktritte von Manuel Neuer, Toni Kroos und İlkay Gündoğan fehlen Spitzenkräfte. Die Nachrücker haben (noch) nicht deren Qualität. Dabei bietet die Situation Chancen.
Nagelsmann: „Ich bin nicht superglücklich“
Nagelsmann wäre froh, wenn ein starker Rechtsverteidiger nachrücken würde, um Kapitän Joshua Kimmich wieder für das zentrale Mittelfeld einplanen zu können. „Wir haben ein paar Kandidaten, aber ich bin über viele Leistungen nicht superglücklich“, sagte er schon im F.A.Z.-Interview im März. Daran hat sich nichts geändert. Gegen Portugal fehlte ein gelernter Rechtsverteidiger im Kader.
Für die WM-Qualifikation gegen die Slowakei, Nordirland und Luxemburg mag die Qualität „Made in Germany“ reichen, für höhere Ziele könnte die fehlende Kadertiefe zum ernsthaften Problem werden. Die WM in den USA, Kanada und Mexiko, erstmals mit 48 Mannschaften über mehr als fünf Wochen, lässt sich nicht mit 13, 14 Spielern gewinnen. Wer es unter klimatisch komplizierten Bedingungen bis ins achte Spiel, das Finale, schaffen will, braucht gute Alternativen. Verletzungen und Sperren dezimieren ein Team bei Turnieren, taktische Varianten und leistungsbedingte Wechsel sind ohne Qualitätsverlust aktuell kaum möglich.
Wie entscheidend am Ende eines Turniers Kadertiefe ist, bewies die EM. Beim deutschen Aus im Viertelfinale trafen mit Dani Olmo und Mikel Merino zwei eingewechselte Spieler. England kam ins Finale, weil Joker Ollie Watkins das Siegtor schoss, Spanien gewann das Finale, weil der eingewechselte Mikel Oyarzabal traf. 23 von 117 EM-Toren schossen Spieler, die zu Beginn nicht dabei waren. Das sind 20 Prozent – Rekord. Dass fünf statt drei Wechsel seit der Pandemie erlaubt sind, wirkt, der Wert der Joker ist gestiegen.
Das gilt speziell für die Offensive. Nagelsmann hatte als letzte Option Deniz Undav, bei Portugal saßen Gonçalo Ramos, João Félix und Rafael Leão auf der Bank. Beim nächsten deutschen Gegner an diesem Sonntag (15.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Nations League, bei RTL und DAZN) im Spiel um Platz drei in Stuttgart sieht das ähnlich aus.
Frankreichs Trainer Didier Deschamps hat trotz der Ausfälle von Bradley Barcola und Ousmane Dembélé eine qualitativ hochwertige Auswahl: Deren Teamkollege Désiré Doué von Champions-League-Sieger Paris, Marcus Thuram von -Verlierer Inter, Michael Olise ist der Toptransfer des FC Bayern, Randal Kolo Muani noch aus Frankfurt bekannt, Kylian Mbappé der Superstar von Real Madrid, und Debütant Rayan Cherki glänzte beim 4:5 im Halbfinale gegen Spanien mit Tor und Vorlage – als Joker.
Deschamps hat ein Luxusproblem, weil er gar nicht alle der „vielen sehr interessanten Offensivspieler“, die laut transfermarkt.de auf einen durchschnittlichen Marktwert von 84 Millionen Euro kommen, einsetzen kann. Zum Vergleich: Die deutsche Offensive – Florian Wirtz, Serge Gnabry, Karim Adeyemi, Leroy Sané, Nick Woltemade, Deniz Undav und Niclas Füllkrug – ist durchschnittlich 43 Millionen wert, aber auch nur, weil Wirtz bei 140 Millionen steht. Die Gefahr für die Deutschen lauert womöglich auch am Sonntag in Stuttgart an der Seitenlinie.