Wie sechs Wochen die Vater-Tochter-Bindung stärkten

Frau Dressler, Sie waren 18 Jahre alt und hatten gerade das Abitur in der Tasche, als Ihr Vater, der als Fotograf arbeitet, Sie fragte, ob Sie mit ihm durch das südliche Afrika reisen wollten. Wie fanden Sie das damals?

Molin Dressler: Ich erinnere mich noch an die stressige Abiturphase, die ich gerade hinter mir hatte, und dieses Gefühl, einfach durch zu sein. Ich war froh, dass es vorbei war, und dachte, jetzt kann ich erst mal ein bisschen chillen. Ich hatte nicht so richtig Lust, schon entscheiden zu müssen, was als Nächstes kommen soll.

Herr Dressler, wie kamen Sie auf die Idee der gemeinsamen Reise?

Hauke Dressler: Ich fand es schon in Ordnung, dass Molin nach dem Abitur eine Weile abhing. Aber nach einem halben Jahr wollte ich sie doch dazu bewegen, was zu machen. Da kam mir die Idee mit der gemeinsamen Reise. Mit meinem Vater hatte ich als Jugendlicher viele Reisen gemacht, die mich persönlich sehr geprägt haben.

Sechs Wochen mit Papa quer durch das südliche Afrika. Das ist kein übliches Urlaubsvorhaben. Waren Sie anfangs skeptisch?

Molin Dressler: Ja, schon. Meine Freundinnen planten zu der Zeit Reisen nach Südostasien, darauf hätte ich auch Lust gehabt. Aber dann fand ich den Vorschlag von Papa und das Reiseziel doch so spannend, dass ich schließlich zugesagt habe. Wenn Papa eine Reise nach Frankreich oder Italien vorgeschlagen hätte, wäre ich sicher nicht drauf eingegangen. Nach Afrika hätte ich mich nicht alleine getraut.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Die Vorgabe Ihres Vaters war aber auch, dass Sie Ihren Anteil selbst finanzieren müssen. Wie fanden Sie das?

Molin Dressler: Im Nachhinein war es gar nicht so schlimm. Ich habe sechs Wochen in einer Autofabrik in Bremen am Band gearbeitet, teilweise in Nachtschicht. Ich fand es eigentlich gut, meinen Beitrag für die Reise zu leisten.

Was war der Grund, warum sie das selbst finanzieren sollte?

Hauke Dressler: Ich war sehr herausgefordert in dieser Lebensphase, weil mein Vater dement war und ich ihn mit meiner Schwester pflegen musste. Dann kam er ins Pflegeheim, das gab uns die Möglichkeit, überhaupt solch eine längere Reise zu machen. Mir war wichtig, dass Molin die Reise etwas wert war. Und wenn sie nicht dazu bereit gewesen wäre, sie mitzufinanzieren, hätten wir sie eben nicht gemacht.

Die Afrika-Reise, die Sie in Ihrem gemeinsamen Buch „Reisen lieben lernen“ beschrieben haben, war auch in vielerlei Hinsicht ein Wagnis. Wie war es zum Beispiel, als Vater und Tochter gemeinsam im Dachzelt zu übernachten?

Molin Dressler: Vor der Reise hatte ich mir tatsächlich viele Gedanken darüber gemacht, wie das alles klappen wird. Meine Freundinnen fanden es unvorstellbar, mit ihrem Vater gemeinsam in einem Zelt zu schlafen. Ich hatte eher Angst davor, dass wir 24/7 aufeinanderhängen und ich keine Privatsphäre mehr habe. Aber es hat sich ziemlich schnell rausgestellt, dass das gar nicht so eine große Rolle gespielt hat. Indem wir im Auto geschlafen haben, hat uns das eine große Freiheit ermöglicht.

Hauke Dressler: Die Sorge um zu wenig eigenen Raum wurde sehr schnell nebensächlich. Es zeigte sich gleich in den ersten Tagen in Johannesburg, dass die Herausforderung solch einer Reise recht groß ist, weil es viele Dinge und Ereignisse gibt, die einem fremd sind. Wir sind dann schnell zu einem Team geworden, das zusammenhält und gemeinsam jeden Tag viele Entscheidungen getroffen hat.

Ruhepause im Dachzelt: Molin Dressler während der Afrikareise
Ruhepause im Dachzelt: Molin Dressler während der AfrikareiseHauke Dressler

Sie haben mit Ihrem Vater gleich zu Beginn in Johannesburg brenzlige Situationen erlebt und sind in den Townships zum Teil mit krasser Armut konfrontiert worden. Wie war das, aus der bürgerlichen Komfortzone eines behüteten Teenagers rauszukommen?

Molin Dressler: Es war das krasse Gegenteil von dem, was ich bis zu dem Zeitpunkt kannte. Schon am ersten Tag sind wir einem Mann begegnet, der uns gegenüber aggressiv wurde. Das war beängstigend. Trotzdem habe ich abends in mein Reisetagebuch geschrieben: Das war einer der schönsten Tage meines Lebens. Es waren eben keine normalen Reiseerlebnisse, wie ich sie bisher kannte, die gingen tiefer und haben etwas mit mir gemacht. Ich konnte das in dem Moment noch gar nicht fassen, warum das so war, diese Analyse kam erst später.

Wie hat der Roadtrip Ihr Verhältnis zueinander verändert?

Molin Dressler: Auf so einer Reise muss man ständig Entscheidungen treffen, was man kocht oder wo man abends übernachtet. Vorher hätte ich einfach gesagt: „Papa, such du was raus.“ Hier aber merkte ich, dass ich mitentscheiden kann. Es war nicht mehr dieses typische Vater-Tochter-Gespann, wir waren mehr auf Augenhöhe. Das hat mir natürlich Selbstbewusstsein gegeben.

Hauke Dressler: In Urlauben vorher haben wir schon viele Dinge geübt. Wir waren schwimmen, campen, haben fremde Leute kennengelernt. In Afrika waren das ganz andere Herausforderungen. Wie Molin sagt, wir mussten täglich ganz viele Entscheidungen treffen. Aber ich habe gleich an Tag eins gemerkt: Meine Tochter kann das. Ich war tatsächlich überrascht, wie hoch ihre Belastbarkeit ist. Das war schön zu erleben.

Warum denken Teenager-Eltern oft, ihre Kinder seien nicht richtig lebensfähig?

Molin Dressler: Vielleicht liegt es daran, dass viele Eltern nicht mehr viel von einem mitbekommen, wenn man älter geworden ist. Es gibt für Jugendliche einfach nicht mehr so viele Situationen, in denen sie ihren Eltern beweisen wollen, dass sie sehr wohl lebensfähig sind.

Hauke Dressler: Ich habe jedenfalls durch die Reise den Blick auf meine Tochter komplett verändert. Danach war mir klar: Wäre ich jetzt nicht mehr da, würde in irgendeiner Weise etwas passieren oder meine Tochter ginge für längere Zeit ins Ausland, dann bräuchte sie mich nicht mehr. Ich wusste nach der Reise, dass mein Erziehungsauftrag abgeschlossen ist.

Vater und Tochter in der simbabwischen Hauptstadt Harare
Vater und Tochter in der simbabwischen Hauptstadt HarareHauke Dressler

Haben Sie als Vater eine besondere Verantwortung in vermeintlichen Gefahrensituationen gespürt?

Hauke Dressler: Ja, schon, aber durch meine Erfahrung von vorherigen Reisen wusste ich, dass die meisten Einheimischen gastfreundlich und interessiert an uns sind. Das ist ein Geschenk. Der Guide, der uns zum Beispiel in Johannesburg durch die Townships geführt hat, war ein professioneller Guide für Journalisten. Sein Verdienst hat vielleicht bis morgen gereicht oder bis übermorgen. Ansonsten improvisierte er seinen Alltag wie viele Menschen in Afrika, die so eine Art Tagelöhnerdasein leben. Dennoch haben wir ihn als sehr verbindlich und loyal erlebt.

Dann gab es aber doch eine Situation in Simbabwe, die nicht nur gefährlich war, sondern auch zu einem Konflikt zwischen Ihnen beiden führte.

Molin Dressler: Das war in Harare, als wir in eine Menschenmenge geraten sind, in der ein Dieb heftig verprügelt wurde und die Polizei einfach zusah. Ich wollte unbedingt dieser Situation entfliehen, weil ich sie unerträglich fand, mein Vater aber zischte mich an: „Wir bleiben jetzt hier. Wir gehen jetzt hier nicht weg.“ Da habe ich bei mir gedacht: Was bist du eigentlich für ein Arsch? Erst sagst du die ganze Zeit, wir sind hier so gleichberechtigt, und dann ist es dir plötzlich egal, was ich denke. In der Situation sind wir wieder in das alte Vater-Tochter-Muster gefallen. Ich habe es später verstanden, warum er sich so verhalten hat, aber in der Situation konnten wir nicht richtig kommunizieren. Da war ich richtig sauer.

Hauke Dressler: Und du warst auch zu Recht sauer, Molin, weil ich es ja nicht erklären konnte und einfach über dich bestimmt habe. Ich habe einfach gesagt: Nein, wir bleiben jetzt hier! Ein Mensch wurde vor unseren Augen verprügelt, und die Polizei stand daneben und hat sich das angesehen. Intuitiv hatte ich drei Gedanken: Schützen wir den Mann vielleicht sogar, wenn wir hierbleiben? Werden sie ihn sonst töten? Zweitens: Wenn wir jetzt abhauen, denkt vielleicht jemand, dass wir was mit der Sache zu tun haben? Und drittens: Sind noch andere Diebe in der Menschenmenge, die sich für uns interessieren, wenn wir allein durch die nächste dunkle Straße gehen? Deshalb war es aus meiner Sicht am sichersten, einfach dazubleiben. Diese Gedanken konnte ich Molin aber erst danach erklären.

Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel, 120 Kilometer nordöstlich von Swakopmund: Für Hauke Dressler war es der „schönste Stellplatz“ der Reise.
Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel, 120 Kilometer nordöstlich von Swakopmund: Für Hauke Dressler war es der „schönste Stellplatz“ der Reise.Hauke Dressler

Hatten Sie beide am Ende der Reise das Gefühl, etwas voneinander gelernt zu haben?

Molin Dressler: Ich habe Papa plötzlich so kennengelernt, wie er in seinem Arbeitsleben ist, wie professionell er ist und wie er sein Leben lebt, wenn er nicht mehr Vater ist. Das war interessant, auch weil Papa mir gezeigt hat, wie Reisen geht, deshalb heißt auch der Titel unseres Buches: „Reisen lieben lernen“. Ich war vor Kurzem mit meinen Freundinnen drei Monate in Südamerika unterwegs und habe gemerkt, dass ich auch alleine reisen kann und dass es mir total Spaß macht.

Wie ist Ihr Verhältnis heute?

Hauke Dressler: Sehr gut. Molin studiert in Stuttgart, ich lebe in Bremen. Durch das Schreiben des Buches haben wir wieder mehr Zeit miteinander verbracht, das war sehr intensiv. Es ist schön zu sehen, wie Kinder sich entwickeln, wenn das Korsett Schule und auch das Korsett Familie aufgebrochen ist. Und wenn man da eine gute Beziehung hinkriegt, dann ist das ein schönes Gefühl.

Molin Dressler: Durch das Buch hat sich unsere Beziehung nochmals sehr stark verändert, wir haben jetzt auch eine professionelle Ebene, auf der wir zusammenarbeiten. Ich hab echt viel gelernt durch diese Reise, wofür ich sehr dankbar bin und was ich jetzt auf mein eigenes Leben anwenden kann. Zum Beispiel zu improvisieren und zu versuchen, andere Blickwinkel einzunehmen.

Hauke Dressler: Und wir haben mit dem Schreiben des Buches das Interesse nach vorne in die Zukunft gelenkt. Man denkt viel zu oft an das Früher in der Eltern-Kind-Beziehung nach dem Motto: Früher haben wir doch dies und das gemacht, wollen wir das nicht mal wieder machen? Dabei hat man in der Eltern-Kind-Beziehung immer auch eine Zukunft.

Hauke und Molin Dressler, „Reisen lieben lernen: Vater und Tochter auf einem Roadtrip in Afrika“, Piper Verlag, 240 Seiten, 18 Euro.