
Vor einiger Zeit war ich eingeladen, am Bochumer Institut für Popmusik der Folkwang-Universität etwas zum Thema „Songtexte“ vorzutragen. Am schwierigsten war, mein Hochstapler:innensyndrom im Zaum zu halten und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich als Vortragende für eine Fehlbesetzung hielt. Stattdessen zwängte ich mich in das Korsett einer souveränen Autorität zum Thema und plädierte für ein ausgewogenes Verhältnis von Text und Musik.
Dabei solle das eine niemals das andere dominieren, sondern sie sich gegenseitig als gleichberechtigte Freunde stützen (als sei das immer möglich oder in jedem Fall wünschenswert); ich sprach über den sorgfältigen Aufbau eines musikalisch interpretierten Textgewebes; und darüber, wie überhaupt nur die hyperromantische Epoche mit ihrem Geniekult und ihrem Gewese um Inspiration daran schuld sei, dass Leute heute noch annehmen können, so ein Songtext sei etwas anderes als das Produkt eines gleichförmigen und letztlich eher uninspirierten Prozesses nach Schema F.
„Was schaut ihr so erstaunt?“, schrie ich das Publikum an, „ihr seid es doch, die eine Universität besuchen, um das Songtexten zu lernen!“ Die Studierenden der Popmusik guckten immer trauriger, aber ich hielt es in diesem universitären Kontext für angebracht, die Entzauberung voranzutreiben. Wer sich der Täuschung bewusst ist, kann schließlich nicht mehr enttäuscht werden.
Die Mär
Ebba Durstewitz lebt als Singer-Songwriterin der Band JaKönigJa und freie Autorin in der Lüneburger Heide.
Spätestens, als ich dazu ansetzte, die Mär vom authentischen persönlichen Erlebnis als alleinigem Ausgangspunkt eines ordentlichen Songtexts zu verbreiten, merkte ich, wie ich Selbstverleugnungsausschlag bekam. Ich ließ das ganze Konstrukt erschöpft in sich zusammenfallen und verließ wortlos den Raum.
Eigentlich hatte ich nicht die Bohne Ahnung, wie man einen guten Songtext schreibt. Dafür konnte ich einen guten Songtext erkennen: „My Face“, aus der Feder von US-Singer-Songwriter John Hartford: „My face, I don’t mind it / I live here behind it / Quite tightly it’s wedged / ’tween my ears / It acts like a wall over which lies the world / So they can’t read my hopes and my fears …“
Das ist ein 1-a-Songtext: rührend, elegant, auch lustig; leichtfüßig, dabei doch deep mit einem Hauch von Melancholie; dazu versetzt mit feinen Metaphern und angenehm unaufdringlichen Unter-, Neben- und Zwischenbedeutungen.
Wie man das hinbekommt? Keine Ahnung. Wahrscheinlich muss man dafür ein Folk-, Blues und Countrysänger wie John Hartford sein.
Die Skepsis
Aber zurück zu meinem schönen Scheitern am Institut für Popmusik, das mit zwei Dingen zusammengehangen haben mag: zum einen tief verwurzelte, inzwischen auch etwas altbackene Skepsis gegenüber der Akademisierung von Popmusik, zum anderen – ein Kardinalfehler! – das Zugeständnis an vermeintliche Erwartungen, auch diese wiederum dem Institutskontext geschuldet und vielleicht ebenso der Tatsache, dass ich Literaturwissenschaftlerin bin.
Da sollte man doch mit jedem Textgenre sicher jonglieren können. Kann man bestenfalls auch. Aber eben von der anderen, der Rezipient:innenseite aus.
Stattdessen hätte ich darauf vertrauen sollen, dass es schon einen Grund gehabt haben wird, dass man mich zu diesem Thema eingeladen hat. Und ich hätte eben davon erzählen sollen, dass ich in Bezug auf Songwriting immer erstaunlich naiv geblieben bin und meistens darauf vertraue, dass sich Text und Musik schon finden werden und mich überhaupt nicht dazu brauchen. Macht ihr beiden Slacker mal, sage ich, ich komm dann später dazu.
Pop im besten Sinne ist die Aufhebung aller Beschränkungen
Das Nichtverstehen
Und ich hätte davon erzählen sollen, dass ich nicht nur nicht wirklich verstehe, wie ich selbst Texte komponiere, sondern dass dieses Nichtverstehen bei mir neben einer stets unterschwelligen Ambivalenz gegenüber den Dingen die treibende Kraft für Songschreiben überhaupt ist. Und das nicht nur im Rückblick auf den Schreibprozess, sondern vor allem beim Schreiben selbst: Das Ich, das die Welt nicht verstehen kann – in meiner Welt lässt sich ohne dieses Gefühl und dem Abarbeiten daran kein einziger Songtext und kein einziges Stück Musik zustande bekommen.
Nichtverstehen und Popsongtexte gehen ja schon auf einer ganz anderen, weniger existenziellen Ebene wunderbar zusammen. Man denke nur daran, wie der Text in der Pop- und Rockmusik dazu neigt, sich nicht nur aus rhythmischen Erwägungen, sondern auch in kreativen Notlagen an die strukturalen Eigenschaften der Musik anzupassen.
Das können Momente sein, in denen gewissermaßen der Unsagbarkeitstopos regiert – „a feeling in my head that I can’t describe“. „YeahYeahYeah“, heißt es dann, und „Hopple-di-Pop“, „I caught sight of her rumpty-tump-tum“, „I goes up to the door with my rap-tap-tap“. „A-woo-bop-a-loo-bop“, „Hmm-bob“, „Tutti-Frutti“, „Rama-lama-ding-dong“, und „Ri-Fol-the-Diddle-all-day“.
Das Falschverstehen
In den Flegeljahren von Pop und Rock ’n’ Roll hatten diese Nonsense-Words oft eine konkrete, außertextliche Funktion: Sie sollten vermeintliche Unanständigkeiten verschleiern. Man wollte schließlich im Radio gespielt werden. Was das Nichtverstehen von Songtexten betrifft, gibt es auch noch eine tolle Unterkategorie, nämlich das Falschverstehen. Verhörer, im US-Englisch auch „Mondegreens“ genannt. Ein Beispiel wäre: „Rettet die Robben“ statt „Let there be Rock“ im gleichnamigen Stück von Tocotronic.
Ich selbst wiederum habe als beginnende Englisch-Lernerin voller Inbrunst die Zeile „Sing majeously“ im Smiths-Song „Asleep“ mitgesungen. Erst später stellte sich heraus, dass es „Sing me to sleep“ heißen soll und leider nicht „Sing majeously“. Nicht dass „majeously“ im Englischen eine Bedeutung hätte …
Das, wiederum, lässt mich an einen Song von Adriano Celentano aus dem Jahr 1973 denken. Er heißt „Prisencolinensinainciusol“ und ist komplett in einem Fantasieenglisch verfasst, auf das selbst englischsprachige Hörer:innen hereingefallen sein sollen. Tenor: Ich verstehe kein Wort, was für ein toller Song!
Banal aber wichtig
Letztlich läuft es ja immer auf die Frage hinaus: Was geht im Pop? Und die Antwort muss naturgemäß lauten: Alles. Es geht darum, Beschränkungen – wie eben auch die der Sprache – zu überschreiten. Dazu gehört auch das Durchbrechen von Selbstbeschränkung und Autozensur, etwas, das ich mir selbst immer wieder sagen muss. Es klingt banal, ist aber so unfassbar wichtig.
Vielleicht ist das der wichtigste Tipp im Hinblick aufs Songschreiben. Die Grenzen, die ich mir in Bezug auf mein eigenes (in diesem Fall eben: musikalisches/textliches) Handeln setze – aus Angst; aus falsch verstandener Ehrfurcht vor was auch immer; weil ich denke, ich kann es nicht; weil ich denke, ich darf es nicht; weil ich denke, andere denken; weil man es so macht; weil man es so nicht macht –, diese Grenzen haben die Neigung, sich pestartig auszubreiten und alle anderen Bereiche zu kontaminieren.
Pop im besten Sinne (um mal den größeren Bogen zu schlagen) ist die Aufhebung dieser Beschränkungen.
Die pathetische Note
Damit ende ich auf einer ziemlich pathetischen Note, aber auch das ist Pop: Das Einfordern eines Rechts auf Pathos. Ebenso wie das eines Rechts auf Bathos (nicht Karl Bartos), wie das Gegenteil genannt wird, das Auf-dem-Boden-Herumrutschen und Sich-lächerlich-Machen; diese seltsame, schöne und irritierende Gleichzeitigkeit von Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung, die in der Kunst im Allgemeinen, aber besonders in der Popmusik möglich ist. Dieses Ich-Sein und Etwas-anderes-Sein, das gleichzeitig existiert, ohne dass das eine das andere verrät.
Und überhaupt: die Koexistenz und Interaktion solcher Widersprüche und Paradoxa und das quasi versöhnliche Aushalten von ihnen. Genauso wie die Akzeptanz des Nichtverstehens und des produktiven, inspirierenden Potenzials des Nichtverstehens. Diese Bereitwilligkeit, etwas Nicht-Verständliches (oder Nicht-gleich-Verständliches) zu akzeptieren – diesen vielbeschworenen unauflösbaren Rest –, all das ist in diesem Maße, glaube ich, tatsächlich nur in der Musik möglich.
Und das ist es, was ich den Studierenden am Institut für Popmusik hätte sagen sollen.