Wolodymyr Selenskyj regiert seit sechs Jahren: Keine Wahl in Sicht

Eigentlich wäre das Kriegsrecht in der Ukraine Anfang Mai ausgelaufen. Doch ein Frieden ist nicht in Sicht. Also verlängerte das Parlament den Ausnahmezustand ein weiteres Mal – bis Anfang August. Damit rücken auch Wahlen abermals in Ferne. Denn das Kriegsrecht sieht sie nicht vor. Auch fast 80 Prozent der Ukrainer lehnen Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt ab.

Dabei ist die Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj schon am 20. Mai des vergangenen Jahres abgelaufen. Seit Monaten verbreitet die russische Propaganda, Selenskyj sei kein legitimes Staatsoberhaupt mehr. Das Narrativ verfängt: Wer in Deutschland durch soziale Netzwerke scrollt, findet immer wieder Forderungen danach, dass die Ukraine endlich Wahlen anberaumen sollte. Schließlich behaupte Kiew doch ständig, für die Demokratie und Europa zu kämpfen. Auch Donald Trump stimmte in diesen Chor ein. Selenskyj sei ein „Diktator ohne Wahlen“, schimpfte der amerikanische Präsident.

Szenario einer Wahl wurde geprüft

So drastisch drückt es der frühere ukrainische Präsident Petro Poroschenko nicht aus. Doch wirft er Selenskyj vor, das Kriegsrecht zu missbrauchen. „Es wird nicht nur für die Verteidigung des Landes genutzt, sondern auch für die Errichtung eines autoritären Regimes“, sagte er in der jüngsten Parlamentsdebatte zur Verlängerung des Ausnahmezustandes. Poroschenko kritisierte vor allem die Eile des Beschlusses fast einen Monat vor Ablauf der Frist. Die uneingeschränkte Macht des Präsidentenbüros über die Abgeordneten sei erniedrigend für die Ukraine.

Wolodymyr Selenskyj bei seiner Amtseinführung als Präsident am 20. Mai 2019
Wolodymyr Selenskyj bei seiner Amtseinführung als Präsident am 20. Mai 2019EPA

Die Legislaturperiode des Parlaments wäre im vergangenen Sommer ebenfalls zu Ende gewesen. Dort hat die Präsidentenpartei Sluha Narodu die Mehrheit. Ihre Abgeordnete Anastasia Radina sagt deutlich: „Wahlen müssen stattfinden.“ So sähen es auch die Ukrainer, denn schließlich kämpften sie auch für die Demokratie des Landes. Die Frage, so Radina, sei nur: Wann können die Wahlen stattfinden?

Bisher werden Wahlen durch das Kriegsrecht verhindert, das nach Beginn des russischen Großangriffs im Februar 2022 verhängt wurde. Denn was wäre, wenn Russland die Ukraine am Wahltag mit Drohnen- und Raketenangriffen überzieht? Die Mehrheit der Ukrainer ist jedenfalls davon überzeugt, dass Wahlen erst nach einem Friedensschluss stattfinden können. Zudem werde Russland nicht zögern, die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander auszuspielen und die Abstimmung in seinem Sinn zu beeinflussen, heißt es von Anhängern der Regierung wie der Opposition.

Obwohl in naher Zukunft keine Wahlen in Sicht sind, denken viele darüber nach, wann und wie sie durchgeführt werden könnten. Der ukrainische Thinktank Opora hat bereits im Januar einen Fahrplan für die Organisation von Wahlen vorgestellt. Darin geht es zum Beispiel um Fragen, wie sie vor russischer Einflussnahme geschützt werden, alle Bürger ihr Wahlrecht ausüben können und in welcher Reihenfolge Parlaments-, Präsidenten- und Kommunalwahlen stattfinden sollten.

Die Wahlkreise stimmen nicht mehr

Fachleute wie von Opora gehen davon aus, dass Wahlen frühestens ein halbes Jahr nach einem Friedensschluss abgehalten werden können. Eine der größten Herausforderungen stellen die Millionen von Flüchtlingen dar. Daten des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind 3,7 Millionen Ukrainer als Binnenflüchtlinge registriert. Sie stammen vor allem aus dem Osten und Süden des Landes, also jenen Regionen, die entweder von Russland besetzt wurden oder nahe der Frontlinie liegen. Sie stehen oft noch in den Wählerverzeichnissen ihrer Heimatgemeinden. Diese Daten müssten zunächst aktualisiert werden.

Das ist weit mehr als ein administrativer Akt. Würden die Daten aktualisiert, aber die Wahlkreise nicht neu zugeschnitten, käme es zu einem regionalen Ungleichgewicht, erklärt Wolodymyr Arjew von Poroschenkos Partei Europäische Solidarität. Denn ähnlich wie in Deutschland ist das ukrainische Wahlrecht so konzipiert, dass in allen Wahlkreisen ungefähr gleich viele Wahlberechtigte leben. Da aber mittlerweile deutlich mehr Menschen in der Hauptstadt, im Zentrum und im Westen der Ukraine leben, entspricht der bisherige Zuschnitt nicht mehr der Realität.

Laut UNHCR sind zudem mehr als 6,9 Millionen Ukrainer ins Ausland geflohen, fast 1,5 Millionen davon nach Deutschland. Die Ukraine hat bisher keine Erfahrung damit, Wahlen für eine große Diaspora zu organisieren. Allein dafür brauche es mehrere Monate Vorbereitungszeit, sagt Arjew. Aufgrund der hohen Zahl an Ukrainern im Ausland müsste sich Kiew mit etlichen Behörden über die Einrichtung von Wahllokalen abstimmen. Das dauere.

Hinzu kommt, dass fast ein Fünftel der Ukraine derzeit russisch besetzt ist. Dass dort ukrainische Wahlen möglich sind, die dann auch frei und geheim wären, glaubt niemand. Das Signal, dass die besetzten Gebiete keinen Vertreter mehr im Parlament haben, möchte aber auch keiner senden. Schon nach der vorigen Parlamentswahl im Jahr 2019 waren deshalb von den 450 Sitzen 26 für Abgeordnete der Krim und aus den besetzten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk frei geblieben.

Was ist mit den Soldaten an der Front?

Eine weitere Frage, die Abgeordnete der Regierungspartei und der Opposition umtreibt, ist das Wahlrecht von Soldaten, die im Einsatz sind. „Ich würde keine Wahlen haben wollen, an denen eine Million Soldaten nicht teilnehmen können“, sagt Radina. Arjew erklärt, es wäre gefährlich, ihnen ihr Wahlrecht zu entziehen. Dabei geht es nicht nur darum, wie die Militärs abstimmen können. Denn auch unter einem Waffenstillstand würden wohl Zehntausende weiter die Front absichern. Die größere Frage ist, wie es um ihr passives Wahlrecht steht. Würden auf einmal Tausende ihre Stellungen verlassen, um in den Wahlkampf zu ziehen? Denn gerade denjenigen, die jetzt das Land verteidigen, werden gute Wahlchancen vorausgesagt.

Im Rennen um das Präsidentenamt würden potentielle Kandidaten wohl gegen Selenskyj antreten müssen. Dass der Amtsinhaber noch einmal kandidiert, davon sind die meisten Gesprächspartner der F.A.Z. überzeugt. Wobei es Stimmen gibt, die finden, er sollte nach einem Friedensschluss den Weg für einen politischen Neuanfang frei machen. Der Politikwissenschaftler Oleksij Haran glaubt dennoch, dass Selenskyj gute Chancen auf eine weitere Amtszeit hat. Nach einer Parlamentswahl würde er aber wohl seine Mehrheit in der Werchowna Rada verlieren. Sluha Naroda müsste sich um Koalitionspartner bemühen.

Laut dem Kiewer Internationalen Institut für Soziologie ist das Vertrauen in Selenskyj zuletzt gestiegen. Nach einer jüngsten Umfrage haben 74 Prozent der Befragten eine positive Meinung vom Präsidenten. Erkenntnisse darüber, wie viele Ukrainer ihn tatsächlich als Präsident wieder wählen würden, veröffentlicht das Institut derzeit nicht. Die Frage wird in Erhebungen aber weiter gestellt. „Wenn wir schon bekannte Politiker zur Auswahl stellen, gewinnt Selenskyj leicht. Vielleicht nicht gleich in der ersten Runde, aber sicher in der zweiten“, erklärt Geschäftsführer Anton Gruschetskyj. Der Einzige, der wirklich mit Selenskyj konkurrieren könnte, sei Walerij Saluschnyj.

Saluschnyj hält sich weiter bedeckt

Dass Kiew im Frühjahr 2022 nicht von den Russen erobert werden konnte, gilt vor allem als sein Erfolg. Zwei Jahre später wurde Saluschnyj aber als Oberbefehlshaber der Armee entlassen und Selenskyj schickte ihn als Botschafter nach London. Kritiker warfen dem Präsidenten vor, so einen Konkurrenten kaltzustellen. Aus dem Umfeld von Poroschenko und der früheren Ministerpräsidentin Julija Timoschenko ist zu hören, man könne sich vorstellen, den im Volk beliebten General zu unterstützen. Beiden werden nur geringe Chancen auf einen Sieg gegen Selenskyj vorausgesagt.

Saluschnyj selbst hat noch keine Ambitionen auf das Präsidentenamt erkennen lassen und spricht selten mit Medien. Das wiederum dürfte zu seiner Beliebtheit beitragen, meint Gruschetskyj. „Er wird nicht als Politiker, sondern als moralische Autorität wahrgenommen.“ Sobald Saluschnyj seine Kandidatur verkünden würde, müsste er sich Fragen gefallen lassen wie: Wer ist in seinem Team, wie würde er die Korruption weiter bekämpfen, wie die europäische Integration vorantreiben? „Bei Selenskyj ist alles klar.“

Kürzlich publizierte das Institut SOCIS, das Poroschenko nahestehen soll, erstmals seit Beginn des russischen Großangriffs Umfragewerte. Demnach würde Saluschnyj mit etwas mehr als 27 Prozent in einer ersten Runde führen. Selenskyj käme mit knapp 16 Prozent in die Stichwahl. Poroschenko würde abgeschlagen mit 5,6 Prozent der Stimmen auf den dritten Platz kommen.