
Helen Frankenthaler war fraglos neben Lee Krasner die wichtigste und bekannteste abstrakte Expressionistin der Vereinigten Staaten. Keine Malerin vor ihr und nach ihr setzte im Grunde unvereinbare Farben derart harmonisch fließend nebeneinander wie sie. Sie darf darüber hinaus als Erfinderin der „Soak Stained“-Technik – einer Farbtränkung der ungrundierten Leinwand zur Erzeugung paradoxal flächig-tiefer Bildzonen – und als eine der Begründerinnen der Farbfeldmalerei gelten.
Wobei die Kopplung von „Abstraktem Expressionismus“, „Erfindung der Farbfeldmalerei“ und „USA“ längst hätte relativiert werden sollen. Nicht nur wurde Frankenthalers jüdische Mutter Martha in Wiesbaden-Igstadt geboren, wenige Kilometer vom jetzigen Ort der größten ihr gewidmeten Ausstellung in Deutschland seit fast dreißig Jahren im voriges Jahr eröffneten Museum Reinhard Ernst (mre), sodass Helen schon als Kleinkind ein gerüttelt Maß an altem Europa aufnahm.
Auch ihr Lehrer Hans Hofmann von der Summer School im amerikanischen Providencetown, der sie vehement zur Malerlaufbahn ermutigte, stammt aus dem beschaulichen Städtchen Weißenburg in Franken, und erst recht ist ein weiterer gewichtiger Einfluss – der Wegbereiter der anscheinend uramerikanischen Farbfeldmalerei – Joseph Albers mit seinen seriellen Hommagen an platt ineinandergeschobene Quadrate, gebürtiger Bottroper.
Was das Genealogie-Gehubere soll? Gerade bei der häufig Europa bereisenden und die europäische Kunstgeschichte wie auch ihre Avantgarden der frühen Moderne als unabdingbare Grundlage für das eigene Schaffen ansehenden Helen Frankenthaler ist es für das tiefere Verständnis ihres Werks unerlässlich, auf die Wurzeln der Nachkriegsmoderne auf dem alten Kontinent und die zentrale Vermittlerrolle der Emigranten hinzuweisen.
Ungrundierter Fels wie in Lascaux und Altamira
Zäumt man nämlich die äußerst sehenswerte Wiesbadener Ausstellung von hinten auf und nimmt das jeweils den fünf Sälen mit insgesamt 32 Frankenthalers (von 50 im Besitz des Museums insgesamt) vorangestellte Zitat als Motto ernst, lautet jenes im vorletzten Saal „Du gibst nie etwas aus der Vergangenheit auf, niemals“, was dem Klischee der amerikanischen Nullsetzungen und kompletten Neuerfindungen zuwiderläuft.
Augenfällig wird das malerische Erinnern ihrer Reisen zu den Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux in „Cave Memory“ von 1959 – die wie Frankenthalers Bilder auf ungrundierter Leinwand ebenfalls auf nicht präpariertem Felsuntergrund gezeichnet sind – und das bewusste Anknüpfen an große Vorbilder in dem monumentalen Querformat „For Hiroshige“ aus dem Jahr 1981.
Gemeint ist der japanische Künstler Utagawa Hiroshige als unerreichter Meister der Grafik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von dem Frankenthaler einen der bezauberndsten Farbholzschnitte aus der Serie „Hundert berühmte Ansichten von Edo“ besaß. Während Hiroshige allerdings den Betrachterblick frech auf den Hintern eines dunkelrotbraunen Pferdes mit goldbändergeschmückten Hufen prallen lässt, übernimmt Frankenthaler von der Grafik lediglich drei der Hufe in stark vergrößerter Form, mischt das Dunkelbraun des Rosses mit den goldglänzenden Hufen zu einem Beige und lässt das Ganze in einem grünen Fond irrlichtern, nicht ohne unten noch ein kräftiges rotes Band mit dem Rakel über die Leinwand zu ziehen – interessanterweise ein Jahr nachdem Gerhard Richter 1980 die abstrakten Rakelbilder erfand. Farbe als Material und mit den Augen abzutastendes erhabenes Relief trifft hier auf Soak-Stained-Hufe, die in ungrundierte Leinwand einsickern.
In ihrem frühen Hafenbild sind noch die Segel der Schiffe zu erkennen
Erst recht bietet sich diese augenöffnende Melange reichster Einflüsse – von Höhlenchiffren bis zu japanischen Zeichenkosmen – im letzten Sonderschausaal im ersten Geschoss in einem Kontinente überspannenden Panorama dar. Dort hängen Frankenthalers frühe Gemälde „Provincetown Harbor“ von 1950 (eine Hafenansicht mit semiabstrakten Segeln in einem wilden Mix aus zeichenhaftem Kandinsky und Feininger-Schifflein) und „The Bay“ von 1957 in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Arbeiten ihres Lehrers Hans Hofmann (mit „The Hedge“, wie Frankenthalers „Hafen“ ebenfalls 1950 in Provincetown entstanden, das zwar eine völlig anders geartete abstrakt-undurchdringliche Hecke aus pastosestem Farbgestöber zeigt, doch eine ähnliche Setzung von Punkt und Linie zur Fläche wie die Komposition des „Provincetown“-Bildes) und dem Mentor Adolph Gottlieb mit dem Bälle-Bild „Two Bars“, dessen flache Kreise sie in ihrer Hommage „Green Moon“ zitiert.
Dazu gesellen sich die Freunde Friedel Dzubas (ebenfalls Hofmann-Schüler mit dem monumentalen „Argonaut“), Lee Krasner im Nebensaal als Frau des Frankenthaler-Freunds Jackson Pollock und Kenneth Noland sowie Bilder des Lebensgefährten für immerhin dreizehn Jahre, Robert Motherwell. Dazu schwebt über allem der Geist ihres Mentors und zeitweiligen Partners Clement Greenberg, des bedeutendsten Kunstkritikers der Vereinigten Staaten und Erfinders der Flatness, mithin der Flächenmalerei.
Dass aber auch der Ausstellungstitel „Move and Make“, „Bewegen und Machen“ statt Verharren – wie ihr Zitat weitergeht – mehr als berechtigt ist, zeigt sich vor allem im imposanten „Turmraum“ des Hauses mit seiner Pyramidalkuppel, intern Kathedrale genannt. „Es gibt kein ,Immer‘. Keine Formel. Es gibt keine Regeln. Lass das Bild dich dorthin führen, wo es hingehen muss“, steht über den Großformaten und betont Frankenthalers Credo des über fünfzig Jahre unausgesetzten Wandlungswillens der Künstlerin, aber auch des sanft gesteuerten Kontrollverlusts. Wo viele Abstrakte damals als postpubertäre Geste der vorgeblichen Unbeugsamkeit ihre Bilder immer mutwilliger verhäßlichten, steuerte Frankenthaler mit einer Schönheitsoffensive dagegen.
Ach wie schön ist „Barcelona“
Ihr schönster je gemalte Farbverlauf ist „Barcelona“ von 1987. Wie auch in „Palestrina“ und „Fenice“ schillert hier bereits der Bildtitel, kann er doch die Stadt oder den Komponisten oder das Theater meinen, im Fall von „Barcelona“ die Großstadt und Kulturmetropole mit integriertem Badestrand, den Ohrwurm Freddie Mercurys und Montserrat Caballés oder eine Hommage an Gaudí und Miró. Souverän lasierend schüttet sie die stark verdünnte Farbe in langen Bahnen, genau so, wie sie es benötigt.
Und wie oft bei ihr (etwa in „Sea Level“, das trotz des Titels das eher horizontale Meer in die Vertikale bringt) handelt es sich um ein nachträglich gekipptes Querformat, das den fließenden Übergang von sandfarbenem Strand, bräunlichem Gebirge/Meer und grünem Horizont ins Hochformat abstrahiert. Zusätzlich zur augenflirrenden Zone des Grün-Braun nutzt sie Perlglanzfarbe, die bei den allermeisten Malern schlicht Kitsch verursacht hätten, bei ihr jedoch die Ästhetik des Bildes nur noch verstärkt.
Alles fließt in der Malerei der passionierten Schwimmerin, die sich durch den frühen Erfolg gleich mehrere Häuser mit traumhaftem See- und Meeresblick ermalte und das feuchte Element reichlich in ihre Farben mischte. Wie Pollock stand sie inmitten der abgerollten Leinwände auf dem Boden und goss die Farbe wie eine Nereide haltgebend ins Weiß. Auf Frankenthalers Hochformat „Lunar Avenue“ von 1975 gischten drei Farbfontänen hoch in den weiß grundierten Bildraum und weit darüber hinaus in den realen.
Und auf „Spanning“ von 1971 gegenüber driften zudem vier von den Rändern kommende Farbkontinente mit unruhiger Uferkontur in einem bis zum Zerreißen angespannten Gleichgewicht parallel nach außen und ins leere Meer des Bildinneren, wo hauchfeine Bleistiftlinien und Buntstiftfäden sie gerade eben noch zusammenhalten. Erinnert man sich daran, dass im Entstehungsjahr des Bildes ihre Ehe mit Motherwell auseinanderging, zeigt sich einmal mehr der enge Nexus aus gefühlter Farbe und Fließen.
Helen Frankenthaler. Move and Make. Museum Reinhard Ernst Wiesbaden; bis zum 28. September. Der Katalog kostet 29,90 Euro.