
Das konnte niemand ahnen. Nach seiner Schau mit der Herbst-Winter-Kollektion von Balenciaga, die er am vergangenen Sonntag in Paris zeigte, hieß es zwar in der Modekritik, womöglich werde die Marke nun „normal“. Aber dass der Designer Demna die lange Reihe an Basics womöglich nur als Vorbereitung auf seine nächste große Aufgabe verstand, dass er selbst zum ersten Mal im Anzug auftrat, nicht in Jeans und Hoodie: Wer hätte ahnen können, was das bedeutete?
Am Donnerstagabend teilten jedenfalls Gucci und der Mutterkonzern Kering mit, dass Demna (der als Designer auf seinen Nachnamen verzichtet) zum neuen „Artistic Director“ der Mailänder Marke ernannt wird – wobei unklar bleibt, ob das der Rolle des „Creative Directors“, also Chefdesigners, entspricht oder darüber hinaus geht. Jedenfalls will sich der Modemacher am 9. Juli mit einer Haute-Couture-Schau von Balenciaga verabschieden und gleich danach bei Gucci in Mailand beginnen, um dort im Herbst seine erste Kollektion zu zeigen.
„Ich freue mich sehr, der Gucci-Familie beizutreten“, teilte der 43 Jahre alte Designer mit, der zehn Jahre lang die kreative Richtung von Balenciaga bestimmt hat. „Es ist mir eine Ehre, einen Beitrag zu einem Haus zu leisten, das ich zutiefst respektiere und schon lange bewundere.“ Er freue sich darauf, gemeinsam mit dem neuen Geschäftsführer Stefano Cantino „ein neues Kapitel der erstaunlichen Geschichte von Gucci zu schreiben“.
Demna, seit 2015 künstlerischer Leiter von Balenciaga, hat die von Cristóbal Balenciaga gegründete Marke produktiv umgekrempelt und erfolgreich gemacht: In seiner Zeit vervierfachte sich der Jahresumsatz von weniger als 500 Millionen auf fast zwei Milliarden Euro. Zuletzt geriet aber auch Balenciaga unter Druck – wie fast alle Marken der beiden großen französischen Luxuskonzerne LVMH und Kering.

Modisch hat sich Demna in seinem Balenciaga-Jahrzehnt zu einem der einflussreichsten Designer überhaupt entwickelt. Er setzte mit formlos-überweiten Entwürfen einen großen Trend, brachte die Balenciaga-Couture neu heraus und irritierte mit martialischem Körperschmuck, äußerst diversen Models, schrägen Werbekampagnen und teils abgedrehten Schauen, in denen zum Beispiel einmal Kanye West durch stinkenden Schlamm watete. Sogar den Skandal um eine geschmacklose Anzeigenkampagne Ende 2022 überlebte er unbeschadet.
Unvergessen die Prêt-à-Porter-Schau von Anfang März 2022, nur zwei Wochen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Demna schickte die Models in einen Wintersturm, gegen den sie verzweifelt ankämpften, wie Flüchtlinge mit einem Plastiksack in der Hand. Nach der Schau weinten viele Zuschauer erschüttert. Denn in der modischen Reaktion auf die aggressive russische Politik schien auch die Geschichte des Designers auf, der einst mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in seiner georgischen Heimat nach Deutschland hatte fliehen müssen.

François-Henri Pinault, der Chef des Kering-Konzerns, schrieb nun, Demna haben für den Erfolg des Konzerns „einen enormen Beitrag geleistet“. Gucci brauche jetzt seine kreative Kraft. Das kann man wohl sagen. Denn der Jahresumsatz der zunächst von Tom Ford und dann vor allem von Alessandro Michele nach oben gebrachten Marke ist von 10,5 Milliarden Euro (2022) auf 7,65 Milliarden Euro (2024) gefallen. Vor fünf Wochen hatte Pinault den glücklosen Michele-Nachfolger Sabato de Sarno entlassen, mit dem sich die Kritiker – und die Kundinnen – nie so recht anfreunden konnten.
Nun hofft Pinault, der Demna einst zu Balenciaga geholt hatte, dass der georgische Modemacher Gucci rettet; auch Pinaults Frau Salma Hayek gilt als Demna-Fan. Die Instagram-Reaktionen auf die Ernennung fielen zumeist positiv aus. Alessandro Michele, nun bei Valentino, schickte drei Herzen. Influencer Bryanboy schrieb, er gehöre zu den wenigen Designern, die den Zeitgeist erfassen und die Mode nach vorne bringen. Und sogar Demnas Bruder Guram Gvasalia schickte ein schwarzes Herz, das inzwischen auf Instagram als Zeichen der Zuneigung gilt, nicht mehr der Trauer. Die beiden Brüder, die 2014 zusammen die Trendmarke Vetements gegründet hatten, haben sich eigentlich zerstritten. Als Demna im Oktober 2023 seine Mutter als erstes Model über den Balenciaga-Laufsteg gehen ließ, schrieb Guram verbittert: „Stolz, meine Mutter bei der Eröffnung der Balenciaga-Show zu sehen. Sehr traurig, dass ich nicht eingeladen war, sie zu sehen. Ich bete für die Seele meines Bruders. Gott segne ihn.“ Einige Kommentatoren witzelten, nun könne ja Vetements-Chefdesigner Guram zu Balenciaga wechseln.
Wegen der Krise in der Luxusbranche dreht sich das Designerkarussell in diesen Tagen so schnell wie vielleicht noch nie. Erst am Donnerstagnachmittag hatte die 69 Jahre alte Donatella Versace ihren Abschied als Versace-Kreativchefin angekündigt – den Posten hatte sie seit dem Tod ihres Bruders Gianni im Jahr 1997 inne. Ihre Nachfolge tritt der ehemalige Miu-Miu-Designer Dario Vitale an.
Auch bei anderen Luxushäusern stehen Wechsel an. So wird in der Szene mit dem baldigen Abschied Maria Grazia Chiuris von Dior gerechnet. Der britische Designer Jonathan Anderson scheint schon bereitzustehen. Für seine jetzige Marke Loewe veranstaltete er beim Prêt-à-Porter, das am Mittwoch nach acht Tagen zu Ende ging, keine klassische Laufsteg-Schau – sondern eine künstlerische Ausstellung seiner Herbst-Winter-Kollektion im ehemaligen Stadthaus von Karl Lagerfeld an der Rue de l’Université. Es sah schon deshalb nach Abschied aus, weil der Designer selbst an dem Tag dort gar nicht erschien.